Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
der Widerspruch auf, dass einige Menschen (nicht alle) gebrauchte Jacken oder Mäntel durchaus »ertragen« können, gebrauchte Schuhe jedoch nicht. Ich nehme an, dass der Mensch zu seinen Schuhen ein erzählerisches Verhältnis hat, in dem viele Widersprüche bis zur Selbstverstummung ausgetragen werden können. Zuweilen werden Schuhe geopfert, weil der Schuhträger das Gefühl hat, dass diese zuviel von ihm wissen. Immerhin kennen die Schuhe alle seine/ihre Wege innerhalb einer bestimmten Vergangenheit, für die ein Mensch nicht immer (eingebildete) Mitwisser haben möchte.
    Ich erinnere mich gut, dass das Erzähl-Verhältnis zu meinen Schuhen einsetzte, als ich etwa zehn Jahre alt war. Meine Mutter ging mit mir in die Stadt und kaufte mir meine ersten Sandalen. Sie gefielen mir so gut, dass ich mich in sie verliebte. Ich trug sie nicht, weil ich verhindern wollte, dass sie zu schnell unansehnlich würden. Lieber nahm ich die Schuhe in der Wohnung in die Hand und schaute sie an. Eine Weile nahm ich die Schuhe sogar mit ins Bett; wenn sie ruhig neben meinem Kissen lagen und ich sie betrachtete, ging eine Art von Glück von ihnen aus.
    Gerade diese Sandalen wirkten wenig später an meiner Selbsterziehung mit. Als ich sie zum ersten Mal an den Füßen hatte, regnete es lang und heftig. Mit sanfter Unaufhörlichkeit tastete sich der Regen bis zu den Zehen vor. Immer neue Regenfälle brachten mich fast zur Verzweiflung. Ich wusste nicht, wie ich verhindern sollte, dass meine neuen Sandalen innerhalb kurzer Zeit miserabel ausschauten. Ich weinte auf der Straße und war fassungslos. Ich konnte niemandem sagen, was mit mir los war; ich wusste es ja selbst nicht. Es war (vermutlich) das erste Auftauchen des Fatums: das Überschwemmtwerden durch ein rätselhaftes Schicksal.
    Heute ist das Eindringen des Regens in meine Schuhe das Wiedereindringen meiner Kindheit in mich. Es dauert dann nie lange, bis mir verloren geglaubte Bilder und Details wieder und wieder einfallen. Ich gehe im Regen umher und bin gleichzeitig erwachsen und Kind. In dieser libellenartig hochgetriebenen Überempfindlichkeit macht es mir plötzlich Vergnügen, widrigen Verhältnissen standzuhalten und mich durch sie hindurchzukämpfen. Und das nur wegen ein Paar neuer Sandalen!
    Insofern kommt der Idee der anfangs zitierten Psychoanalytikerin erhebliche Wahrheit zu. Schuhe sind Darsteller der Kämpfe unserer verinnerlichten Lebensmaximen. Verlassene Schuhe anziehen würde bedeuten, in eine übriggebliebene Lebenserzählung eines anderen Menschen einzusteigen; instinktiv empfinden wir davor ein Befremden und lassen die verlorenen Schuhe lieber mit sich allein. Gleichzeitig ist diese Barriere (nicht in eine fremde Schuh-Körper-Erzählung eindringen wollen) auch der Grund, warum wir so oft einzelne Schuhe in den Straßen herumliegen sehen: ihre Besitzer haben die Erzählung ihrer Schuhe nicht länger ertragen.
    Dann habe ich doch noch mit eigenen Augen gesehen, wie ein Schuh (fast) verlorenging. Es war auf einem großen Spielplatz. Viele Kinder sprangen schreiend und johlend umher. Die Mütter saßen ringsum auf den Bänken und schauten dem Treiben zu. Plötzlich verlor ein umherrennender, etwa zehnjähriger Junge seinen linken Schuh. Der Junge und einige andere Kinder bemerkten das Missgeschick, aber der Junge zeigte keine Lust, sich den Schuh wieder anzuziehen. Er war viel zu sehr in sein ununterbrochenes Spiel vertieft. Und, was wichtiger war, er hatte schon bemerkt, dass ihm der verlorene Schuh eine amüsante Nebenrolle zuschob. Andere Kinder lachten über ihn, weil er ungehemmt mit dem Zwischenfall umgehen konnte. Der Junge war plötzlich so etwas wie ein kleiner Spielplatz-Clown geworden. Er verstärkte seine Rolle mit selbst erfundenen Faxen beim Gehen und Rennen. Es gefiel ihm, dass er für die anderen einen solchen Unterhaltungswert hatte. Die Mutter forderte ihn vom Spielplatzrand auf, seinen Schuh wieder anzuziehen. Er überhörte die Mutter beziehungsweise weigerte sich, ihren Anordnungen zu folgen. Da nahm die erboste Mutter den verlorenen Schuh an sich, schimpfte ihren Sohn und verließ mit diesem den Spielplatz. Auch jetzt, beim Abgang, humpelte der Junge gekünstelt davon. Er bemerkte nicht einmal, dass die anderen Kinder nicht mehr so sehr über ihn lachten wie zu Beginn der Szene.
    So schön kann es sein, einen Schuh zu verlieren.

Von der Bruchbudenhaftigkeit des Schönen
     
    Es zeichnet sich ab, dass der Kommerz der finale Antrieb der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher