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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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Schönheit planen. Wirkliche Schönheit ist nichtintendierte Schönheit; sie verunglückt, wenn sie allzu sehr gewünscht wird. Um dieser Entdeckung innezuwerden, müssen wir von unserer hemmungslosen Subjektivität Gebrauch machen. Die moderne Subjektivität ist so frei wie nie zuvor. Sie verdankt ihre Freiheit ebenfalls einem ungeplanten Unglück, einem Unglück des Vorstellens und Wünschens.
    Wir sind daran gewöhnt, dass in unseren Feuilletons wichtige Teile unserer Kultur immer neu verabschiedet werden. Immer wieder lesen und hören wir (zum Beispiel) vom Ende der Psychoanalyse, der Familie, der Lyrik, der Germanistik, des Romans, des Wohlfahrtsstaates, der Arbeitsgesellschaft – und beinahe endlos so weiter. Durch die dichte Abfolge der Abschiede bleibt undeutlich, ob die Totgesagten wirklich tot sind oder nur totgesagt werden sollen, ob sie in Wirklichkeit nie gestorben oder gar unsterblich sind, weil sie auf wundersam versteckte Weise weiterleben – und es nur dieses Kulturgerede ist, das nie wirklich gelebt hat.
    Zu den Entschlafenen gehörten seit langer Zeit auch die Individualität, die Subjektivität und die Schönheit. Unsere Grabredner scheinen sich einig zu sein, jedenfalls nach dem herrschenden common sense der fortgeschrittenen Ästhetik, dass Subjektivität zur Konkursmasse untergegangenen Denkens gehört, dass es Individualität und mithin die private Empfindung von Schönheit nicht mehr geben kann. Gleichzeitig werden Schriftsteller, Komponisten, Maler (etwa bei Preisverleihungen) immer noch und immer wieder für ihre individuelle Handschrift gelobt, das heißt für ihre künstlerisch artikulierte Subjektivität, die doch nach allgemeiner Meinung mausetot ist.
    Wie aber gehen verschwindende und gleichzeitig immer neu erscheinende Subjektivität zusammen? Wie sollen wir uns diese Aporie denken? Die Gleichzeitigkeit von Präsenz und Untergang von Subjektivität/Individualität/Schönheit bemerken wir auf zahllosen Gebieten. Ich greife willkürlich drei Beispiele heraus. 1. Viele Theologen glauben heute nicht mehr an das Überleben der Seele nach dem Tod, obgleich dieses Fortleben nach wie vor zum Kernbestand des christlichen Glaubens gehört. Aber es hat sich neben dem Fortlebensglauben die sogenannte »Ganztodlehre« ausgebreitet, die auch das Verlöschen der Seele nach dem Tod als gegeben hinnimmt. Was soll der Gottesmann jetzt glauben? Wenn die Theologen nicht ihre privat entscheidende Subjektivität hätten, könnten sie den Wissenszwiespalt auf diesem zentralen Gebiet nicht lange aushalten. Ähnlich verhält es sich in der Psychoanalyse mit dem von Freud auf die Welt gebrachten 2. Todestrieb. Ein solcher Trieb leuchtete vielen Analytikern auf Anhieb ein, jedenfalls zu Beginn der Psychoanalyse. Im Laufe der Entwicklung rückten viele Analytiker von der Idee eines solchen Triebs wieder ab. Heute verhält es sich mit dem Todestrieb ähnlich wie mit dem Fortleben der Seele: die einen glauben es, die anderen nicht – subjektiv. 3. In der heutigen Philosophie gilt, wie jeder weiß, die Metaphysik als obsolet. Wer auf sich hält, redet wie Jürgen Habermas vom ›nachmetaphysischen Denken‹. Gleichzeitig gibt es Philosophen (Dieter Henrich zum Beispiel), die an der Metaphysik nicht nur festhalten, sondern diese besonders stark machen. Es ist wieder nur die letzte Instanz der persönlich verantworteten Subjektivität, die angibt, was wahr sein könnte und was nicht.
    Wer oder was hat recht, wer oder was hat unrecht? Das ungesicherte Wissen bringt durch sein permanentes Schwanken die Autonomie des Subjekts hervor. Und mehr als das: Die schiere Subjektivität, die uns nötigt, den Geltungsanspruch von etwas zu bejahen oder zu verneinen, ist selber ein Teil von Schönheit geworden. Es ist ein Moment von Wohlgefallen (Schönheit) darin, dass wir ein derart tonnenschweres Problem mit einer privaten Entscheidung überhaupt klären können. Der jahrhundertelange Diskurs, ob es Subjektivität/Individualität/Schönheit gibt oder nicht gibt, tritt mit einer solchen Entscheidung für immer in den Hintergrund. Er ist nicht mehr wichtig. In der Nachmoderne bin ich allein der Entscheider, ob es Schönheit für mich gibt oder nicht – und wenn ja: wo.
    Meine Subjektivität ist, weil sie nicht mehr selbst beurteilt werden kann und muss, eine unangreifbare, weil immerzu flüchtige Instanz. Sie ist flüchtig, weil sie stets aufmerksam sein will, um Schönheit inmitten der unschönen Realität ausfindig zu
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