Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition)
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
S ein Blick traf mich wie ein Hieb. Was für traurige Augen, dachte ich. Wie bei jemandem, der mit einem Fuß über dem Abgrund schwebt und sich darauf freut, endlich zu fallen. Heute noch frage ich mich manchmal, wieso ich bei Davids Anblick sofort ans Fallen denken musste. Aber je mehr Zeit vergeht, umso sicherer bin ich, dass ich schon in diesem ersten Augenblick das Unheimliche spüren konnte, das direkt auf mich zukam.
    Das Weiße von Davids Augäpfeln schimmerte rot, aber es waren keine Tränen hinter seinen Lidern mit den langen dunklen Wimpern zu sehen.
    »Man könnte meinen, er hätte vor fünf Minuten noch geweint, oder?« Mein Dad beugte sich über meine Schulter, sodass mich sein Atem am Ohr kitzelte. Wir waren eben aus unserem Auto gestiegen und standen jetzt ein bisschen verunsichert auf dem Parkplatz vor dem altehrwürdigen Herrenhaus auf Martha’s Vineyard. David hatte sich auf der obersten Stufe der breiten Eingangstreppe aufgebaut und die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug eine schwarze Jeans und einen ebenfalls schwarzen Rollkragenpullover, der sein Gesicht blass und hager aussehen ließ.
    Der Wind heulte um uns herum und zerrte an mir, als wollte er mich mit Gewalt von hier vertreiben. Ich unterdrückte ein Frösteln und ließ dabei David nicht aus den Augen.
    »Hat er aber nicht«, raunte Dad. »Er hat nicht eine Träne vergossen, seit …« Er zögerte. »… seit Charlie gestorben ist«, vollendete er. Es war nicht das erste Mal, dass ich Charlies Namen hörte, aber es war das erste Mal, dass ihn jemand hier auf der Insel aussprach. In meiner Erinnerung haben sich all die Stimmen, die ihren Namen nur hinter vorgehaltener Hand flüsterten, zu einem einzigen apokalyptischen Chor vereinigt, den ich heute noch ab und zu in meinen Träumen hören kann. Manchmal bin ich froh darüber, denn wenigstens träume ich dann nicht von Madeleines dämonischem Gewisper …
    Dad und ich hatten uns noch immer nicht von der Stelle gerührt, als ein Mann aus dem Haus auf uns zugeeilt kam. Mein Vater begrüßte ihn mit einem Lächeln, das etwas zu breit war, um nicht aufgesetzt zu wirken. »Jason! Danke für eure Einladung!«
    Jason Bell war der Eigentümer dieses riesigen Herrenhauses aus dem 19. Jahrhundert, das den sonderbaren Namen Sorrow trug. Sorrow! Allein dieser Name hätte mir schon zeigen müssen, dass die Leute, die hier wohnten, nicht ganz echt im Kopf waren. Ich meine, wer nennt sein Haus schon »Trauer«? Während Mr Bell und Dad sich begrüßten, versuchte ich, Davids Blick einzufangen. Es gelang mir nicht. Hey!, dachte ich, sieh mich richtig an, du unhöflicher Kerl! Immerhin bin ich deinetwegen hier! Doch natürlich konnte er meine Gedanken nicht lesen.
    Noch immer stand er regungslos da. Er hatte die Arme jetzt entflochten und die Hände dafür in den Taschen seiner Jeans vergraben, die ihm fast von den Hüftknochen zu rutschen drohten. Seine hochgezogenen Schultern wirkten abweisend. Der schneidende Dezemberwind wehte vom Atlantik her und zauste seine halblangen dunklen Haare. David schien ebenso zu frieren wie ich. Nein, erkannte ich. Mehr. Viel mehr!
    Jason Bell und Dad wechselten ein paar belanglose Worte über unsere Anreise und die Überfahrt auf die Insel. Und die ganze Zeit starrte David abwesend über meinen Kopf hinweg in die Ferne. In Richtung Meer. Ich konnte das Donnern der Brandung hören und fragte mich, was er wohl sah. Er hat nicht eine Träne vergossen, seitdem es passiert ist . Ich klopfte mir mit den flachen Händen auf die Oberarme. Es fühlte sich so an, als würde mir nie wieder warm werden.
    Endlich hatten unsere Väter ihre Begrüßung beendet. Mr Bell trat einen Schritt zur Seite und sagte: »Darf ich dir Juli vorstellen, David? Sie ist Bobs Tochter.« Er sprach den Vornamen seines Sohnes nicht amerikanisch aus, sondern französisch, mit lang gezogenem I und weichem D am Ende. Dad hatte mir erzählt, dass die Vorfahren von Davids Mutter aus New Orleans stammten und noch Französisch gesprochen hatten. Seine Mutter war seit Jahren tot .
    David rührte sich nicht, aber immerhin nickte er knapp.
    In einer energischen, weltmännischen Geste streckte Mr Bell mir die Hand entgegen. Ein freundliches Lächeln klebte in seinen Mundwinkeln und trotzdem wirkte er angespannt. Mit dröhnender Stimme rief er: »Willkommen in unserem Haus, Juli! Wir freuen uns, dass du da bist!« Er räusperte sich. »Alle!«, schob er nach.
    Ich schüttelte Mr Bell die Hand und suchte dabei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher