Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herz aus Glas (German Edition)

Herz aus Glas (German Edition)

Titel: Herz aus Glas (German Edition)
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
»Weißt du, was ich lustig finde?«, wandte er sich wieder an David. »Du hast mich all die Zeit nie verdächtigt.«
    Das hatte ich auch nicht. Obwohl es genügend Anzeichen gegeben hatte, wie mir plötzlich bewusst wurde. Die Art, wie Henry David behandelt hatte – burschikos und seltsam gnadenlos hatte er ihn zum Beispiel gezwungen, mit nach Oak Bluffs zu fahren. Ausgerechnet in den Laden hatte er David geführt, in dem Charlie gern einkaufen gewesen war. Verdammt, ich hatte ihm sogar noch Vorwürfe gemacht, hatte ihn verdächtigt, dass er Spaß daran hatte, David zu quälen!
    Dass das tatsächlich der Fall war, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Nicht einmal, als ich bei Taylors Absturz einen kurzen Blick auf Henrys Tattoo erhascht hatte, war ich misstrauisch geworden …
    »Henry!«, bat David erneut.
    An mir vorbei begegneten sich die Blicke der beiden, fochten einen stummen Kampf aus.
    »Lass sie gehen. Was du willst, bin ich.« David war jetzt fast ebenso nahe am Abgrund wie ich.
    Die Kante unter unseren Füßen knisterte.
    »Du glaubst, dass ich dich springen lasse?« Henry lachte auf. »Oh nein, mein Freund! So einfach kommst du nicht davon!«
    Ein heftiger Ruck fuhr durch meinen Körper. Ich spürte, wie ich fiel. Ein entsetzter Schrei durchschnitt die Luft und ich wusste nicht, ob er mir gehörte oder David.
    Dann prallte ich auf. Die wenige Luft, die ich noch in meinen Lungen gehabt hatte, wurde mit einem Schlag aus mir herausgepresst. Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass ich nicht auf den Felsen in der Tiefe gelandet war, sondern auf der Erde oben auf der Klippe. David flog zu mir, packte mich, zerrte mich mit einem schmerzerfüllten Schrei von der noch immer bröckelnden Kante weg. Dann ging er neben mir in die Knie, zog mich an sich, umarmte und küsste mich unter erleichtertem Lachen und Weinen.
    Betäubt und fassungslos, dem sicher geglaubten Tod so knapp entkommen zu sein, sah ich mich nach Henry um. Er war nirgends zu sehen. Ich machte mich aus Davids Armen los, krabbelte zu der Kante und schaute darüber.
    Henrys Körper lag unten auf den Felsen. Sein Kopf war in einem unnatürlichen Winkel nach hinten gebogen.
    »Er ist gesprungen«, sagte David leise neben mir und legte mir den Arm wieder um die Schultern. »Im letzten Moment hat er dich von der Kante fortgestoßen und ist selbst gesprungen.«
    ***
    »Schade, Master David, dass Sie uns wirklich verlassen wollen!« Grace’ Gesicht wirkte betrübt, während sie vor David stand und ihm höflich die Hand schüttelte.
    David schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Sie haben Madeleine«, scherzte er. »Sie brauchen mich hier nicht.«
    Seine Worte schienen sie nicht zu amüsieren. Ganz im Gegenteil. Sie schien zu überlegen, ob sie etwas erwidern sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Sie wusste sehr wohl, dass David ihr den Hals gerettet hatte. Als Jason erfahren hatte, dass Henry ihr die Appartementschlüssel gestohlen und sie es nicht gemeldet hatte, hätte er sie beinahe entlassen. Es war nur Davids Fürsprache zu verdanken, dass er es am Ende doch nicht getan hatte.
    Wir standen auf dem Parkplatz neben Dads Wagen und waren bereit, die Insel zu verlassen und nach Boston heimzukehren. Ein paar Tage waren vergangen, seit Henry in den Tod gesprungen war. Die Polizei hatte erneut wegen eines Todesfalls auf den Gay-Head-Klippen ermitteln müssen und war diesmal zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich um einen Unfall handelte. David und ich hatten mit unseren Aussagen wesentlich zu dieser Sichtweise der Dinge beigetragen. Trotz allem, was er ihm angetan hatte, wollte David nicht, dass Henry als Verbrecher in die Polizeiakten einging. Ich liebte ihn für diese Entscheidung nur umso mehr. Und ich wusste, dass es lange dauern würde, bis die Wunden, die Henry Davids Seele zugefügt hatte, verheilen würden.
    Henry war sein Freund gewesen.
    David hatte ihm vertraut. Er hatte keine Ahnung gehabt, was er ihm mit seiner Beziehung zu Charlie angetan hatte – und nun hatte er keine Möglichkeit mehr, Henry das zu sagen und ihn deswegen um Verzeihung zu bitten. Diese Tatsache quälte ihn, das wusste ich. Ich hatte lange darüber nachgedacht, warum Henry am Ende selbst gesprungen war. Vielleicht hatte er gewusst, wie David über seinen Tod denken würde. Vielleicht war es sein letzter Versuch gewesen, ihm Leid zuzufügen. Vielleicht aber war er einfach nur verzweifelt gewesen. Wir würden es nie erfahren.
    Ich unterdrückte ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher