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Die Farbe des Himmels

Die Farbe des Himmels

Titel: Die Farbe des Himmels
Autoren: Britt Silvija und Reissmann Hinzmann
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20. November 1973
    Die Stunden nach Sonnenuntergang sind die schlimmsten. Wenn das Tagesprogramm vorbei ist und wir in unseren Zimmern bleiben sollen, fallen die Erinnerungen über mich her wie schwarze Vögel, die mit ihren spitzen Schnäbeln auf mich einhacken. Ich kann sie nicht abwehren.
    Jetzt im November geht die Sonne früh unter. Im Zimmer ist es kalt und dunkel. Wir dürfen nach zehn Uhr kein Licht mehr anmachen. Aber ich habe eine alte Haushaltskerze von der Signora bekommen und in eine leere Flasche gesteckt. So kann ich wenigstens mein Tagebuch schreiben.
    Ich sitze an dem wackeligen Holztisch am Fenster und schaue in die Nacht. Draußen rattert der Zug in Richtung Herrenberg vorbei. Er ist so einladend erleuchtet. Ich stelle mir vor, was für Menschen darin sitzen, und frage mich, wohin sie unterwegs sind. Ich würde so gern mit einem von ihnen tauschen. Keine Ahnung, warum ich immer denke, dass andere glücklicher sind als ich.
    Die Signora schläft schon. Endlich ist Ruhe, abgesehen von ihrem leisen Schnarchen. Den ganzen Tag lärmte Adriano Celentanos kratzige Stimme aus ihrem alten, klapprigen Plattenspieler. Nicht auszuhalten! Ich habe schon überlegt, ob ich das Ding einfach auseinander nehmen soll. Aber das wäre zu riskant. Der Verdacht würde sofort auf mich fallen. Außerdem mag ich die Signora. Nur dieses furchtbare Lied tötet mir den letzten Nerv.
    Eigentlich heißt sie Sofia da Vito, aber Dali hat sie »Signora« genannt, weil sie immerzu von Italien redet. Sie stammt aus der Gegend um Mailand, ist aber seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Irgendwie tut sie mir Leid. Sie hört das Lied sicher aus Sehnsucht.
    Ich höre Schritte im Flur. Die Nachtrunde fängt an. Eigentlich müsste ich jetzt schlafen, aber ich will nicht. Ich habe Angst, dass der Traum wiederkommt. Ich halte es nicht aus, jede Nacht von ihr zu träumen. Im Traum ist sie da, und ich kann sie berühren, streicheln und liebkosen. Doch wenn ich aufwache, muss ich weinen, weinen, weinen …
     
     

EINS
     
    Als der Alarmapparat klingelte, war Thea Engel allein im Geschäftszimmer. Sie erwartete ein Fax mit den Personalien eines Studenten, der sich am Abend zuvor aus Liebeskummer von dem sechsundfünfzig Meter hohen Bahnhofsturm gestürzt hatte. Selbstmorde waren keine Straftat, und Thea fragte sich manchmal, warum sie eigentlich von ihrem Dezernat bearbeitet wurden. Zugegeben, Stuttgart war laut Statistik die sicherste deutsche Großstadt, und tatsächlich passierte hier nur alle paar Monate ein Mord. Körperverletzungsdelikte und jede Menge unklare Todesfälle, die sich letztlich meist doch als natürliche Tode herausstellten, waren das tägliche Brot der Stuttgarter Mordkommission.
    Thea nahm ab. »Engel, Dezernat 1.1.«
    »Henning, Funkleitzentrale, guten Morgen.«
    »Ich bin nicht sicher, ob der Morgen gut wird, wenn ich einen von euch am Telefon habe. Was gibt’s denn?« Thea angelte nach Notizblock und Stift.
    »Eine Frau Baric hat eben angerufen. Wenn ich sie richtig verstanden hab, meldete sie eine ›tote Person in Wohnung‹, in Sonnenberg, Orplidstraße 15, Wolf Hauser. Möglicherweise ihr Arbeitgeber. Die Frau war völlig hysterisch, und ihr Deutsch war ungefähr so gut verständlich wie ein Brief vom Finanzamt. Es klang nicht nach natürlichem Tod, aber das werdet ihr schon herausfinden.«
    »Danke, wir sind unterwegs.« Thea griff nach dem Personalienblatt, das gerade aus dem Faxgerät kroch. »Du musst leider warten«, murmelte sie, schob es in die Ablage und lief den Flur hinunter.
    Ein paar Türen weiter stürzte sie in das Zimmer des Dezernatsleiters Rudolf Joost, der eben sein Zigarillo ausdrückte und die letzte Rauchwolke in die Luft blies. Thea musste unwillkürlich an die kleine Dampflok denken, die im Höhenpark auf dem Killesberg Scharen von Besuchern durch die Anlagen fuhr.
    »Ein Toter in Sonnenberg, wahrscheinlich ein nichtnatürlicher Tod«, stieß sie hervor.
    Joost griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Micha, kannst du mit Thea zu einer Leiche fahren? Sie erzählt dir alles Weitere.«
    Er legte auf. »Und ab mit euch.«
    Thea hastete zu ihrem Büro, um ihren Rucksack zu holen. Aus dem Spiegel an der Innenseite der Schranktür blickte sie ihr erhitztes Gesicht an. Wie ich schon wieder aussehe, dachte sie, fuhr sich durch die dichte rote Mähne und band sie in aller Eile zu einem Pferdeschwanz.
    »Es ist in der Orplidstraße«, rief sie, als sie die Tür ihres Kollegen Michael Messmer
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