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Internat auf Probe

Internat auf Probe

Titel: Internat auf Probe
Autoren: Dagmar Hoßfeld
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„Mäuschen!“
    Carlottas Augenbrauen berühren sich fast, so sehr zieht sie sie zusammen. Warum muss Mama sie eigentlich immer Mäuschen nennen, wenn sie etwas von ihr will? Als wäre sie noch ein Baby.
    Seit drei Wochen und vier Tagen ist Carlotta zehn. Und mit zehn ist man kein Baby mehr.
    Schlimmer als Mäuschen ist nur noch die Steigerung, denkt Carlotta grimmig.
    „Achtung, gleich kommt’s!“, murmelt sie.
    Sie fängt an zu zählen und kommt genau bis zweieinhalb, als Mama schon „Carlotta-Mäuschen!“ durch den Flur ruft.
    Carlotta drückt ihr Gesicht in ihr Lieblingskuschelkissen und stöhnt. Das Kissen ist knallgrün und mit vielen kleinen Marienkäfern bestickt. Es sieht aus wie ein Stück von einer Sommerwiese. Ein bisschen duftet es auch so. Wie ein Kaninchen kräuselt Carlotta die Nase und lupft einen Kissenzipfel.
    „Was ist denn?“, ruft sie zurück.
    „Hallo, Mäuschen.“ Ihre Mutter kommt ins Zimmer und setzt sich zu ihr auf die Bettkante. Carlotta kann spüren, wie die Matratze nachgibt. „Draußen scheint die Sonne, und du liegst den ganzen Tag hier herum und faulenzt.“
    Carlotta nimmt das Kissen vom Gesicht.
    „Ich faulenze überhaupt nicht“, protestiert sie. „Ich lese.“
    Jedenfalls hab ich gelesen, bis du mich gestört hast, will sie noch hinzufügen, aber sie schluckt es hinunter.
    „Hast du vielleicht Lust, mit den Zwillingen in den Park zu gehen?“, fragt Mama. „Ihr Mittagsschlaf ist gleich zu Ende, und ich muss kurz in die Stadt, um mein Kostüm aus der Reinigung zu holen.“ Sie nimmt Carlotta das Buch aus der Hand, blättert darin und verzieht den Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „So etwas liest du? Eine Vampirgeschichte?“
    Carlotta wirft ihr Sommerwiesenkissen zur Seite, schnappt ihrer Mutter das Buch weg und lässt es blitzschnell unter der Bettdecke verschwinden. Sie liebt Vampirgeschichten. Fehlt noch, dass Mama das Buch beschlagnahmt!
    „Warum denn nicht?“, fragt sie harmlos. „Es ist total spannend. Papa hat’s mir geschenkt.“
    „Ach“, seufzt Mama und steht auf. „Das hätte ich mir ja denken können. Sei bitte in zehn Minuten unten. Ich ziehe die Zwillinge inzwischen an.“
    Carlotta rollt mit den Augen und unterdrückt einen Fluch. Das Buch ist so spannend, dass sie unmöglich mittendrin aufhören kann. Ausgeschlossen! Aber Protest ist zwecklos, das weiß sie genau. Die Zwillinge gehen vor.
    „Immer gehen die vor“, knurrt sie, als Mama die Treppe hinuntergeht und sie nicht mehr hören kann. „Echt gemein!“
    Sie hatte sich so darauf gefreut, das Wochenende bei ihrer Mutter und deren neuer Familie zu verbringen. Seit ihre Eltern sich vor zwei Jahren getrennt haben, kommt das selten genug vor. Aber seit ihrer Ankunft ist sie nur Babysitter. Die Zwillinge hier, die Zwillinge da …
    Carlotta schnaubt. „Was ich will, interessiert anscheinend niemanden!“
    Wenig später stapft sie die ruhige Wohnstraße hinunter und schiebt den Zwillingsbuggy vor sich her. Der ist so breit und sperrig, dass sie Mühe hat, damit um die parkenden Autos herumzukurven. Als sie durch ein Schlagloch fährt, werden Lennart und Lorenz unsanft durchgeschüttelt und fangen sofort an zu greinen.
    Tapfer versucht Carlotta, das anschwellende Wutgeheul zu ignorieren, aber das ist fast unmöglich, denn immerhin sind die Zwillinge zu zweit, und sie haben ausgeschlafen. Wenn sie wollen, können sie stundenlang ohne Pause brüllen, das weiß Carlotta aus leidvoller Erfahrung. Sie beugt sich vor und streichelt den beiden über die Köpfe.
    „War doch nicht so schlimm, oder? Guckt mal, dahinten ist schon der Park!“, sagt sie versöhnlich.
    Lennart und Lorenz hören auf zu weinen, aber anscheinend nur, um nach Luft zu schnappen. Anschließend geht es in voller Lautstärke weiter – auch als Carlotta sie durch das breite Tor in den Park schiebt, am Spielplatz vorbei, am Ententeich entlang, bis zu einer freien Bank, die im Schatten steht. Dort angekommen wirft sie den Kleinen einen finsteren Blick zu, woraufhin die beiden noch ein bisschen lauter brüllen.
    Und das alles ohne eine einzige Träne, wundert sie sich und lässt sich auf die Bank fallen. Wie machen die das nur?
    Während sie den Buggy mit einer Hand in leichte Schwingungen versetzt, schüttelt sie ihren Rucksack von der Schulter und angelt mit der anderen Hand ihr Buch heraus. Sie hatte es sich so schön vorgestellt, im Park zu sitzen und zu lesen, aber schon nach wenigen Minuten stellt sie fest,
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