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Die unsichtbare Sonne

Die unsichtbare Sonne

Titel: Die unsichtbare Sonne
Autoren: Poul Anderson
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drängte Herktaskos ungeduldig.
    »Ich möchte nicht zu schnell vorgehen. Sie alle wissen, daß es gelegentlich notwendig sein kann, etwas anzunehmen, obwohl man weiß, daß es nicht richtig oder zutreffend ist. Die Priesterschaft besitzt zum Beispiel große Ländereien, Manufakturen und zahlreiche Häuser, die offiziell dem Heiligtum gehören. Sie sind sich darüber im klaren, daß das Heiligtum weder eine Person noch eine Familie ist – aber in diesem bestimmten Zusammenhang wird es so betrachtet. Wenn ein Stück Land vermessen werden soll, benützen Sie die Trigonometrie, obwohl Sie wissen, daß Ihr Planet in Wirklichkeit rund ist …« Schuster führte noch einige Beispiele an, bis er davon überzeugt war, daß alle Anwesenden den Begriff einer gesetzlichen oder mathematischen Fiktion verstanden hatten.
    »Aber was hat das mit der Astrologie zu tun?« erkundigte sich einer der Zuhörer.
    »Dazu komme ich gleich«, antwortete Schuster. »Welchen Zweck verfolgen Ihre Berechnungen? Sind es nicht eigentlich sogar zwei verschiedene Zwecke? Erstens wollen Sie erfahren, in welcher Beziehung die Himmelskörper zu einem bestimmten Zeitpunkt stehen werden, weil sich daraus ergibt, was Gott zu dieser Zeit von Ihnen erwartet. Und zweitens versuchen Sie, mehr über den großen Plan des Himmels zu lernen, weil Sie hoffen, auf diese Weise tiefer in das Wesen Gottes einzudringen.
    Nachdem die Beobachtungen über einige Jahrzehnte hinweg fortgesetzt worden waren, mußten Ihre Vorfahren feststellen, daß es nicht genügte, von der Annahme auszugehen, daß alle Planeten – also auch dieser hier – sich in Kreisen um ihre Sonnen bewegen, daß die Monde einen Kreis um diesen Planeten beschreiben, während die Himmelskugel sich um das Ganze dreht. Nein, es war später sogar erforderlich, diese Kreise als Epizykloide anzusehen; wieder einige Jahrzehnte später wurden daraus sogar Epi-Epizykloide. Auf diese Art und Weise wurde das Bild immer komplizierter, bis die Astrologen jetzt alle Hoffnung aufgegeben haben, jemals weitere Fortschritte machen zu können.«
    »Richtig«, stimmte einer der Geweihten zu. »Vor kaum hundert Jahren hat Kurro der Weise aus diesem Grund die Theorie aufgestellt, Gott wolle verhindern, daß wir allzuviel wissen.«
    »Vielleicht«, meinte Schuster zweifelnd. »Andererseits ist es aber auch möglich, daß Gott nur wollte, daß Sie eine andere Methode anwenden. Ein Wilder, der einen schweren Stein aufheben will, kommt unter Umständen zu dem Schluß, daß Gott ihn daran hindern will, diese Last zu bewegen. Aber Sie setzen einen Hebel an und bewegen sie doch. Mein Volk hat eine Art geistigen Hebel entdeckt, mit dessen Hilfe wir tiefer in die Geheimnisse der Bewegungen der Himmelskörper eindringen können, als es jemals möglich wäre, wenn wir uns auf die Berechnung von Kreisen über Kreisen über Kreisen beschränken müßten.
    Entscheidend dabei ist jedoch, daß wir dazu eine Fiktion gebrauchen müssen. Deshalb möchte ich Sie schon jetzt bitten, nicht zornig zu werden, wenn ich Ihnen diese Fiktion präsentiere. Ich setze voraus, daß alle Bewegungen am Himmel kreisförmig sind, denn der Kreis ist das Symbol Gottes. Aber ist es nicht erlaubt – selbstverständlich nur zum Zweck der Berechnung –, von der Voraussetzung auszugehen, daß sie nicht kreisförmig sind … und dann die Konsequenzen dieser Voraussetzung zu untersuchen?«
    Schuster wollte schon einen Rauchring blasen, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. »Auf diese Frage muß ich eine klare Antwort bekommen«, sagte er. »Falls diese Methode nicht statthaft ist, spreche ich selbstverständlich nicht weiter davon.«
    Er erhielt eine zufriedenstellende Antwort. Die jungen Priester diskutierten lautstark miteinander, aber Herktaskor entschied schließlich, daß es zulässig sei, von einer falschen Hypothese auszugehen. Daraufhin erklärte Schuster seinen Zuhörern Keplers Gesetze und Newtons Theorien.
    Damit war er einige Stunden lang beschäftigt. Herktaskor mußte einige Male einschreiten und wieder Ruhe herstellen, nachdem zwei oder drei Geweihte protestierten, weil Schusters Ausführungen an Gotteslästerung grenzten. Aber im allgemeinen folgten die Zuhörer ihm aufmerksam und stellten intelligente Fragen. Schuster war mehr denn je davon überzeugt, daß sie im Grunde genommen intelligenter als Menschen waren. Er konnte sich nicht vorstellen, daß irgendeine andere Rasse des Universums diese revolutionären Ideen so rasch aufgenommen oder
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