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Blutiges Schweigen

Blutiges Schweigen

Titel: Blutiges Schweigen
Autoren: T Weaver
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    Wir trafen uns in einem Restaurant an der Themse, das Boneacres hieß. Sie saßen an einem Tisch ganz hinten. Der Regen strömte an den Fensterscheiben hinunter, und die beiden starrten zu den Leuten hinaus, die vor dem London Eye Schlange standen. Die Frau blickte zuerst auf. Caroline Carver. Sie hatte geweint. Das Weiße in ihren Augen war gerötet und ihr Make-up ein wenig verschmiert. Sie war schlank und gut angezogen. Allerdings sah sie älter aus als Mitte vierzig. Die Falten in ihrem Gesicht waren tief und dunkel wie Ölfarbe, so als hätte jemand sie mit einem Skalpell eingeritzt. Als ich näher kam, lächelte sie zwar, doch es fehlte die Herzlichkeit. Vermutlich war sie ihr in diesem Stadium bereits abhandengekommen. So war es mit den meisten Eltern, mit denen ich zu tun hatte. Je länger ihre Kinder vermisst wurden, desto mehr ergriff die Kälte Besitz von ihrem Leben.
    Sie rutschte von der Sitzbank und schüttelte mir die Hand. Dann machte sie Platz für ihren Mann, James Carver, ein baumlanger Kerl, ein wahrer Hüne. Er stand nicht auf, sondern streckte nur eine Hand über den Tisch, die meine verschluckte. Ich wusste ein wenig über die Carvers, das meiste aus dem Telefonat mit Caroline vor einigen Tagen. Sie hatte mir erzählt, dass sie in einer alten, zu einem Haus mit fünf Zimmern umgebauten Kirche wohnten. Von dort aus betrieb er auch seine Baufirma, ein Unternehmen, das er im Laufe von über fünfzehn Jahren aufgebaut hatte. Nach der zwei
Millionen Pfund teuren Immobilie, der Markenkleidung und den vielen prominenten Auftraggebern zu urteilen, brauchten sie sich nicht zu beklagen.
    Das Lächeln, mit dem er mich bedachte, war echter als das seiner Frau. Als er auf die Sitzbank gegenüber wies, nahm ich Platz. Das Restaurant war ihr Vorschlag gewesen, und als ich mir die Preise ansah, war ich froh, dass die Rechnung nicht auf meine Kappe ging.
    »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Carver.
    Ich nickte. »Scheint ein nettes Lokal zu sein.«
    Die beiden schauten sich um, als sei ihnen dieser Gedanke völlig neu. Carver lächelte, seine Frau richtete den Blick wieder auf die Speisekarte.
    »Wir waren vor unserer Hochzeit oft hier«, erwiderte er. »Damals war das Restaurant noch auf Steak und Fisch spezialisiert.« Als seine Frau ihn ansah, nahm er ihre Hand. »Caroline sagt, Sie seien früher Journalist gewesen.«
    »In einem anderen Leben.«
    »War sicher interessant.«
    »Ja, hat Spaß gemacht.«
    Er musterte meine linke Hand. Zwei meiner Fingernägel waren eingesackt und rissig. In der Mitte erhob sich weißes, wulstiges Narbengewebe, wo der Nagel nie wieder nachwachsen würde.
    »Sind das Kriegsverletzungen?«, fragte er.
    Ich betrachtete die Narben. »Nein. Sie sind jüngeren Datums.«
    »Und warum haben Sie es aufgegeben?«
    Ich warf erst ihm, dann Caroline einen Blick zu. »Meine Frau lag im Sterben.«
    Ein echter Gesprächskiller. Die beiden rutschten verlegen hin und her. Caroline starrte erneut auf den Tisch und griff dann zur Speisekarte. Er räusperte sich. Bevor das Schweigen
sich zu lange hinzog, holte Carver ein Foto aus der Sakkotasche. Ein Anflug von Trauer trat in seine Augen. Er drehte das Foto um und legte es vor mich hin.
    »Das ist Megan«, sagte er.
     
    Als Caroline mich das erste Mal angerufen hatte, hatte ich ihr den Weg zum Büro beschrieben — doch sie hatte geantwortet, sie wolle sich lieber an einem neutralen Ort treffen, so als sei ein Besuch bei mir die Bestätigung dessen, dass ihre Tochter endgültig fort sei. Nachdem wir uns auf Zeit und Lokalität geeinigt hatten, hatte sie mir ein wenig von Megan erzählt: ein liebes Mädchen, Teil einer eng verbundenen Familie, keine Männergeschichten, kein Grund davonzulaufen.
    Sie war seit knapp sieben Monaten fort.
    Jedes Jahr verschwinden in Großbritannien zweihunderttausend Menschen — dreißigtausend allein in London —, doch am medienwirksamsten ist es immer noch, wenn es sich um ein weißes junges Mädchen aus einer Mittelschichtfamilie mit verheirateten Eltern handelt. Als Megan verschwand, wurde in den Medien viel darüber berichtet: lokal, landesweit, ja, sogar international. Wochenlang jagte eine Schlagzeile die andere, und Reporter eines jeden Fernsehsenders des Landes berichteten vom Gartentor ihres Hauses aus. Es gab sogar einen eigenen Namen für Fälle wie ihren, die vor laufenden Kameras und im Scheinwerferlicht abgewickelt wurden: MWWS.
    Missing White Woman Syndrome  — das Phänomen vermisste
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