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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift
Autoren: Lena Johannson
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dem Anger. Für diejenigen, die nicht bei Verstand waren, galt das nicht. Er holte das Messer vor, das er vor einigen Wochen auf dem Markt einem Fleischhauer hatte entwenden können. Es war nicht annähernd so edel wie sein Langsax, aber den hatte man ihm abgenommen. So musste er sich mit diesem begnügen und sich vorstellen, es wäre sein gutes altes Schwert.
    Alles war bereit. Er musste lächeln. Wann immer Pilger oder Kaufleute aus Lübeck in der Stadt waren, hatte er nach der Gattin des Englandfahrers Vitus Alardus gefragt. Sosehr es ihn auch schmerzte, von ihr zu hören, davon, dass sie an der Seite des Schwarzhaarigen lebte, so sehr hüpfte sein Herz doch, sie am Leben und glücklich zu wissen.
    Womöglich bin ich wahrhaftig verrückt geworden, dachte er. Wie sollte man sonst erklären, was er vorhatte. Er berührte das Messer, dann tauchte er die Feder in die Tinte und schrieb:
    »Hiermit vermache ich der Lübecker Bürgerin Esther aus Schleswig, Gattin des Vitus Alardus, dreihundert Mark Silber. Um in den Genuss dieses beträchtlichen Anteils meines Vermögens zu gelangen, soll sie gestehen, dass sie mich, den ehrbaren Kaufmann Josef Felding aus Köln, mit einem Trick an der Nase herumgeführt hat, woraufhin man mich für geisteskrank erklärte und mir die Narrentracht anlegte.
    Den Rest des Geldes vermache ich der Kirche St. Gereon, sofern man mich unter Glockengeläut dort hineinträgt, mir die Totenmesse liest und mich anschließend ordentlich auf dem Friedhof bestattet.
    Um mein Seelenheil zu retten, gestehe ich, im Jahre des Herrn 1226 zu Lübeck einen Mann getötet zu haben. Es handelt sich um den Schreiber Reinhardt, der in einen Betrug verwickelt war, an dem auch ich einen gewissen Anteil hatte. Dieser Betrug hatte größte Bedeutung für die Stadt Lübeck und bedauerlicherweise ebenso für die tüchtigen Englandfahrer der Stadt Köln. Ich sage: Man hat sie ihrer angestammten Rechte beraubt und ihnen den Handel böswillig erschwert.
    Und ich bezeuge vor Gott und der Welt, dass – in der Folge des schändlichen Betrugs – es sich bei dem Lübecker Reichsfreiheitsbrief, dem ganzen Stolz der Stadt, den Kaiser Friedrich  II . ausgestellt hat, um eine Fälschung handelt aus der Hand der Frau, die ich liebe.«

[home]
    Lübeck im Jahre 1261  – Vitus Alardus
    I hm war nicht wohl. Der Medicus kam nun beinahe jede Woche, um nach ihm zu sehen und ihn zur Ader zu lassen. Vitus spürte, wie seine Lebenskraft ihn verließ. In Esthers Augen und denen seiner fünf Kinder sah er die Trauer. Sie sprachen nicht darüber, doch wussten alle, wie es um ihn stand. Nicht mehr lange, dann würde er seinem Schöpfer gegenübertreten müssen. Es ängstigte ihn nicht. Die Zeit war einfach gekommen. Wer konnte schon von sich behaupten, beinahe das sechzigste Jahr zu erreichen?
    Er ging hinunter in die Stube, wo Esther auf einem hohen Lehnstuhl saß und Handarbeiten erledigte.
    »Vitus, geht es dir nicht gut? Kann ich dir etwas bringen?« Ihr graues Haar war wie an jedem Tag sorgsam hochgesteckt. Ihr Gesicht war faltig, doch er fand es noch immer so schön wie bei ihrer ersten Begegnung. Nein, es war noch schöner geworden, so sanft und so vertraut.
    »Danke, meine liebe Esther, ich wollte nur wissen, ob wir noch Tinte im Hause haben.«
    Sie legte Stoff und Faden beiseite. »Tinte? Wozu brauchst du die?«
    »Was meinst du wohl?« Er lächelte. »Ich möchte etwas schreiben.«
    »Tatsächlich? Das nenne ich eine überraschende Antwort.« Sie erhob sich und küsste ihn auf die Wange.
    Vitus wurde das Herz schwer. Er blickte auf ein gutes Leben zurück, für das er seinem Herrn dankbar sein konnte. Aber er hätte eben auch gern noch mehr Zeit mit seiner Frau gehabt. Von ihr Abschied nehmen zu müssen fiel ihm wahrlich schwer.
    »Verrätst du mir auch, was du schreiben willst? Du hast lange nicht mehr an deinem Pult gesessen.« Sie hatte ihre Arme um seine Taille gelegt und blickte zu ihm hinauf.
    »Es ist Zeit, mein Vermächtnis aufzusetzen.«
    Sie senkte den Kopf und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.
    »Nein, dafür ist es noch lange nicht Zeit«, murmelte sie erstickt.
    Er küsste sie auf den Scheitel und sagte leise: »Du weißt doch, ich habe gern alles in Ordnung. Was ich heute erledige, quält mich morgen nicht mehr.« Ihm fiel etwas ein. »Wie viele Winter sind ins Land gegangen, seit dieser Bote aus Köln hier auftauchte. Erinnerst du dich?«
    »Wie könnte ich das je vergessen?«
    »Es ist mir noch immer ein
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