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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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anliegenden Seidenkleidern, trank Champagner und rauchte Zigaretten mit Veilchenduft. Kaum eine würdigte Andras eines Blickes, als er sein Gepäck hereinschleppte und gegen die Wand lehnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich vorwagte und eines der Mädchen am Arm berührte. Es warf ihm einen schüchternen Blick zu und hob die nachgezogene Augenbraue.
    »József Hász?«, fragte er.
    Das Mädchen hob einen Finger und zeigte an den höchsten Punkt des ovalen Treppenhauses. »Lá bas« , sagte sie. »En haut.«
    Er hievte sein Gepäck in den Aufzug und fuhr, so hoch es ging. Oben geriet er in ein Getümmel von Männern und Frauen, Zigarrettenrauch und Jazz; das gesamte Quartier Latin, so schien es ihm, hatte sich bei József Hász eingefunden. Er ließ seine Koffer im Flur stehen, betrat die Wohnung durch die offen stehende Tür und wiederholte seine Frage nach Hász bei verschiedenen, offensichtlich betrunkenen Gästen. Nach einer labyrinthischen Irrsuche durch Räume mit hohen Decken stand er plötzlich mit Hász selbst auf dem Balkon, einem großen, schlaksigen jungen Mann in einer samtenen Hausjacke. Hász’ große graue Augen musterten Andras mit einem Ausdruck champagnerseliger Nachdenklichkeit, er stellte eine Frage auf Französisch und hob sein Glas.
    Andras schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber fürs Erste müssen wir mit Ungarisch vorliebnehmen«, sagte er.
    József blinzelte ihn an. »Und was für ein Ungar bist du?«
    »Andras Lévi. Der Ungar aus dem Telegramm deiner Mutter.«
    »Was für ein Telegramm?«
    »Hat deine Mutter kein Telegramm geschickt?«
    »Ach, Herrgott, stimmt ja! Ingrid sagte, es sei eins gekommen.« József legte Andras eine Hand auf die Schulter, beugte sich durch die Balkontür und rief: »Ingrid!«
    Ein blondes Mädchen in einem engen, paillettenbesetzten Kleid schob sich auf den Balkon und stemmte die Hand in die Hüfte. Es folgte ein rasanter Austausch auf Französisch, woraufhin Ingrid einen gefalteten Telegrammumschlag aus ihrem Oberteil zog. József holte das Papier hervor, las es, sah Andras an, las es erneut und bekam einen Lachanfall.
    »Du armer Kerl!«, sagte er. »Ich sollte dich vor zwei Stunden am Bahnhof abholen!«
    »Ja, so war es geplant.«
    »Du wolltest mich bestimmt umbringen!«
    »Will ich vielleicht immer noch«, sagte Andras. Sein Kopf pochte im Takt der Musik, seine Augen tränten, sein Magen krampfte vor Hunger. Ihm war klar, dass er nicht bei József Hász bleiben konnte, aber ebenso wenig konnte er sich vorstellen, jetzt nach draußen zu gehen und einen anderen Übernachtungsort zu suchen.
    »Na, du bist ja bisher auch ohne mich ganz gut zurechtgekommen«, sagte József. »Jetzt bist du hier bei mir, und es ist genug Champagner für die ganze Nacht da und auch sonst alles in rauen Mengen, was dir gefallen könnte, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Ich brauche nur eine stille Ecke zum Schlafen. Gib mir eine Decke und lass mich irgendwo liegen.«
    »Hier gibt es leider nirgendwo eine stille Ecke«, sagte József. »Du wirst wohl etwas trinken müssen. Ingrid wird dir was besorgen. Komm mit!« Er zog Andras in die Wohnung und überließ ihn der Fürsorge Ingrids, die die offenbar letzte saubere Champagnerflöte im Haus hervorzauberte und Andras ein großes funkelndes Glas voll einschenkte. Für Ingrid selbst reichte die Flasche; sie prostete Andras zu, gab ihm einen langen rauchigen Kuss und bugsierte ihn in das vordere Zimmer, wo ein Klavierspieler sich durch »Downtown Uproar« lavierte und die Gäste gerade anfingen zu tanzen.
    Am Morgen erwachte er auf einem Sofa unter einem Fenster, die Augen mit einem Seidenhemdchen bedeckt, sein Kopf ein großer Wattebausch, das Hemd aufgeknöpft, die aufgerollte Jacke unter dem Kopf. Sein linker Arm war eingeschlafen und kribbelte. Jemand hatte eine Daunendecke über ihn gebreitet und die Vorhänge aufgezogen; ein Block aus Sonnenlicht fiel auf seine Brust. Andras starrte an die Zimmerdecke, wo sich das florale Muster eines Stuckmedaillons um den geriffelten Messingbaldachin einer Deckenleuchte wand. Ein Gewirr goldener Zweige wuchs vom Baldachin nach unten und trug kleine flammenförmige Glühbirnen. Paris , dachte er und stützte sich auf die Ellenbogen. Im Zimmer verstreut lag der Müll der Party, es roch nach abgestandenem Champagner und verwelkten Rosen. Andras erinnerte sich verschwommen an ein längeres Tête-à-tête mit Ingrid, dann an einen Trinkwettstreit mit József und einem
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