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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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breitschultrigen Amerikaner; danach wusste er nichts mehr. Sein Gepäck und die Kiste für József waren in die Wohnung geschafft und neben dem Kamin aufgestapelt worden. Hász selbst war nirgends zu sehen. Andras wälzte sich vom Sofa und wanderte durch den Flur zu einem weiß gefliesten Badezimmer, wo er sich über dem Waschbecken rasierte und in einer Wanne mit Löwenfüßen badete, die heißes Wasser direkt aus dem Hahn spendete. Anschließend zog er sich seine einzigen sauberen Wechselkleider an. Als er im großen Zimmer nach seinen Schuhen suchte, hörte er einen Schlüssel in der Tür. Es war Hász mit einem Karton von der Bäckerei und einer Zeitung. Er legte die Sachen auf den Couchtisch und sagte: »Schon so früh auf?«
    »Was ist das?«, fragte Andras mit Blick auf das mit einem Band verschnürte Päckchen.
    »Medizin für deinen Kater.«
    Andras öffnete den Karton und entdeckte ein halbes Dutzend warmer Gebäckstücke in Wachspapier. Bis zu dem Moment hatte er sich nicht eingestanden, wie ausgehungert er war. Er hatte ein Schokoladencroissant und ein zweites zur Hälfte vertilgt, ehe ihm einfiel, auch seinem Gastgeber etwas anzubieten, der jedoch lachend ablehnte.
    »Ich bin schon seit Stunden wach«, sagte József. »Ich habe bereits beim Bäcker gefrühstückt und die Zeitung gelesen. Spanien ist am Ende. Frankreich schickt immer noch keine Truppen. Aber es gibt zwei neue Schönheitsköniginnen, die um den Titel der Miss Europa antreten: die unwerfende dunkle Mademoiselle de Los Reyes aus Spanien und die geheimnisvolle Mademoiselle Betoulinsky aus Russland.« Er warf Andras die Zeitung zu. Zwei glatte, eiskalte Schönheiten blickten in weißen Abendkleidern aus den Fotografien auf der Titelseite.
    »Mir gefällt die Spanierin«, sagte Andras. »Diese Lippen.«
    »Sie sieht wie eine Nationalistin aus«, meinte József. »Mir gefällt die andere.« Er lockerte seinen orangefarbenen Seidenschal, lehnte sich auf dem Sofa zurück und legte die Arme auf die geschwungene Rückenlehne. »Sieh dir diese Wohnung an!«, sagte er. »Das Hausmädchen kommt erst morgen früh. Ich muss heute auswärts essen.«
    »Du solltest deine Kiste aufmachen. Deine Mutter hat dir bestimmt etwas Leckeres geschickt.«
    »Die Kiste! Die habe ich ganz vergessen.« József schleppte sie durchs Zimmer und stemmte den Deckel mit einem Schürhaken auf. Zum Vorschein kamen eine Dose mit Mandelplätzchen, eine Konserve mit Rugelach, eine weitere Dose, in die eine komplette Linzertorte gepackt war, ein Vorrat wollener Unterwäsche für den kommenden Winter, ein Päckchen Briefpapier mit Umschlägen, die bereits an seine Eltern adressiert waren, eine Liste von Cousins und Cousinen, bei denen József sich melden sollte, eine Aufzählung von Dingen, die er für seine Mutter besorgen sollte, darunter mehrere Teile intimer Damenunterwäsche und ein neues Opernglas, sowie ein Paar Schuhe, die sein Schuhmacher auf der Váci utca für ihn gefertigt hatte und mit dessen Können – wie József behauptete – keiner der hiesigen Flickschuster es aufnehmen konnte.
    »Mein Bruder arbeitet in einem Schuhgeschäft auf der Váci utca«, sagte Andras und nannte den Namen des Ladens.
    »Das ist ein anderer«, sagte József mit gewisser Herablassung. Er schnitt ein Stück von der Linzertorte ab, probierte es und erklärte es für perfekt. »Du bist ein guter Mann, Lévi, dass du diese Köstlichkeiten durch halb Europa geschleppt hast. Wie kann ich das wiedergutmachen?«
    »Du könntest mir verraten, wie ich in Paris zurechtkommen soll«, sagte Andras.
    »Willst du dafür wirklich Vorschläge von mir?«, fragte József. »Ich bin ein Taugenichts, ein Libertin.«
    »Ich habe wohl keine andere Wahl«, sagte Andras. »Du bist der einzige Mensch, den ich in Paris kenne.«
    »Ah! Du Glückspilz«, sagte József. Während sie die Linzertorte aus der Dose aßen, empfahl er Andras eine jüdische Pension, einen Laden für Künstlerbedarf und eine Studentenkantine, wo Andras günstig essen gehen konnte. József selbst verkehrte dort natürlich nicht – er ließ sich seine Mahlzeiten normalerweise von einem Restaurant auf dem Boulevard Saint-Germain schicken –, aber er hätte Freunde, die dort speisten und es ganz passabel fänden. Dass Andras an der École Spéciale eingeschrieben war und nicht an der Beaux-Arts, sei bedauerlich, weil sie so keine Kommilitonen wären, aber wahrscheinlich nur besser für Andras; József sei berüchtigt für seinen schlechten
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