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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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Blechblas- und Streichinstrumente los, und ihr mächtiger Klang erfüllte Andras’ Brustkorb, dass ihm fast die Luft wegblieb. Der Samtvorhang hob sich und gab den Blick frei auf das Innere einer italienischen Kathedrale, perfekt wiedergegeben bis ins kleinste Detail. Durch Bleiglasfenster fielen bernsteingelbe und azurblaue Lichtstrahlen, und das halb fertige Fresko von Maria Magdalena leuchtete geisterhaft auf einer Gipswand. Ein Mann in gestreifter Häftlingskleidung schlich in die Kirche und versteckte sich in einer der dunklen Seitenkapellen. Ein Maler kam herein und arbeitete am Fresko, gefolgt von einem Mesner, der penibel darauf achtete, dass der Maler vor dem nächsten Gottesdienst seine Pinsel und Tücher wegräumte. Dann trat die Operndiva Tosca auf, das Modell für die Maria Magdalena. Die karmesinroten Röcke rauschten um ihre Knöchel. Gesang stieg empor und schwebte unter der bemalten Kuppel des Operaház: der klarinettengleiche Tenor des Malers Cavaradossi, der volltönende Bass des flüchtigen Angelotti, der aprikosenwarme Sopran der fiktiven Diva Tosca, verkörpert durch die ungarische Diva Zsuzsa Toronyi. Der Klang war so dicht, so greifbar, dass Andras das Gefühl hatte, ihn mit den Händen fassen zu können, wenn er sich über die Brüstung lehnte. Das Gebäude selbst war zu einem Instrument geworden, dachte er: Die Architektur weitete und perfektionierte den Klang, unterstrich und umschloss ihn.
    »Das werde ich nie vergessen«, flüsterte Andras seinem Bruder zu.
    »Das will ich dir auch geraten haben«, wisperte Tibor zurück. »Ich erwarte von dir, dass du mich in die Oper ausführst, wenn ich dich in Paris besuche.«
    In der Pause tranken sie im Erfrischungssalon kleine Tassen schwarzen Kaffee und unterhielten sich über das, was sie gesehen hatten. Weigerte sich der Maler eher aus selbstloser Treue oder aus selbstherrlichem Wagemut, seinen Freund zu verraten? Sublimierte die Folter, die er deshalb über sich ergehen lassen musste, sein sexuelles Begehren, seine Fixiertheit auf Tosca? Hätte Tosca Scarpia auch dann erstochen, wenn ihr das Melodramatische durch ihren Beruf nicht in Fleisch und Blut übergegangen wäre? Dieser Gedankenaustausch hatte etwas Bittersüßes für Andras; stundenlang hatte er als kleiner Junge zugehört, wenn Tibor mit seinen Freunden über Philosophie, Sport oder Literatur diskutierte, und sich nach dem Tag gesehnt, wenn er eine Bemerkung machen würde, die Tibor geistreich oder zutreffend fand. Doch nun, da er dem großen Bruder ebenbürtig war, zumindest annähernd, ging er selbst fort, stieg in einen Zug, der ihn Tausende von Kilometern in die Ferne trug.
    »Was hast du?«, fragte Tibor und legte Andras die Hand auf den Arm.
    »Zu viel Rauch«, sagte er hustend und wich Tibors Blick aus. Er war erleichtert, als die flackernden Lampen das Ende der Pause ankündigten.
    Nach dem dritten Akt und zahllosen Vorhängen – Tosca und Cavaradossi wunderbarerweise von den Toten auferstanden, der böse Scarpia süß lächelnd mit einem Armvoll roter Rosen – drängten Andras und Tibor auf den Ausgang zu und schoben sich die überfüllte Treppe hinunter. Draußen waren über dem fahlen Licht der Stadt nur schwach einige Sterne zu sehen. Tibor nahm Andras am Arm und führte ihn nach vorn zur Andrássy- Seite des Gebäudes, wo nach und nach die Stammbesucher vom ersten Rang und Parkett durch die drei Marmorbögen des Haupteingangs nach draußen traten.
    »Ich möchte, dass du dir das Foyer anschaust«, sagte er. »Wir sagen dem Platzanweiser einfach, wir hätten etwas vergessen.«
    Andras folgte Tibor durch den mittleren Marmorbogen in die kronleuchterhelle Eingangshalle, wo eine Marmortreppe ihre Flügel bis zur Galerie spannte. Herren und Damen in Abendkleidung schritten herab, doch Andras hatte nur Augen für die Architektur: das Eierstabmuster entlang der Treppe, das Kreuzgewölbe darüber, die grau-goldenen korinthischen Säulen, die die Galerie trugen. Miklos Ybl, ein Ungar aus Székesfehérvár, hatte mit seinem Entwurf die internationale Ausschreibung für das Opernhaus gewonnen; Andras’ Vater hatte seinem Sohn zum achten Geburtstag ein Buch mit Ybls Zeichnungen geschenkt; viele Nachmittage hatte Andras damit verbracht, das Bauwerk zu studieren. Während das Publikum um ihn herum auf die Straße drängte, staunte er hinauf in das Deckengewölbe und war derart vertieft in den Vergleich dieser dreidimensionalen Version mit den filigranen Zeichnungen in seinem
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