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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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gingen den Bahnsteig hinunter bis zur Tür des Waggons dritter Klasse, wo ein Schaffner mit rot-goldener Mütze die Reisenden in den Zug bugsierte.
    »Nun«, sagte Tibor, »du gehst jetzt wohl besser auf deinen Platz.« Seine Augen hinter der Brille waren feucht, er legte Andras die Hand auf den Arm. »Pass von jetzt an gut auf deinen Ausweis auf.«
    »Das werde ich«, sagte Andras, ohne Anstalten zu machen, in den Zug zu steigen. Die große Stadt Paris wartete; plötzlich war ihm schwindelig vor Angst.
    »Alles einsteigen!«, rief der Schaffner und warf Andras einen Blick zu.
    Tibor küsste Andras auf beide Wangen und drückte ihn lange Zeit an sich. Wenn sie als Kinder zur Schule gegangen waren, hatte ihr Vater ihnen immer die Hände auf den Kopf gelegt und das Reisegebet gesprochen, ehe er sie in den Zug steigen ließ; jetzt flüsterte Tibor die Worte leise vor sich hin: Möge Gott deine Schritte zum Frieden leiten und dich vor aller Gefahr behüten. Er bewahre dich vor allem Unheil dieser Welt. Möge Gott bei allen, die dir begegnen, Freundlichkeit walten lassen . Dann gab er Andras noch einen Kuss. »Du wirst als Mann von Welt zurückkommen«, sagte er. »Als Architekt. Dann kannst du mir ein Haus bauen. Ich verlass mich darauf, hörst du?«
    Andras brachte kein Wort hervor. Er seufzte schwer und blickte auf den glatten Beton des Bahnsteigs, wo sich Reiseaufkleber ungezählter Nationen sammelten. Deutschland. Italien. Frankreich. Er fühlte sich mit seinem Bruder über die Gefäße, über das Gewebe verbunden, so als seien sie an der Brust zusammengewachsen; die Vorstellung, dass Andras in einen Zug steigen würde, um von seinem Bruder fortgebracht zu werden, erschien ihm so falsch wie das Einstellen der Atmung. Der Schaffner pfiff.
    Tibor nahm die Brille ab und drückte sich mit den Fingern in die Augenwinkel. »Genug jetzt«, sagte er. »Wir sehen uns bald wieder. Los mit dir.«
    Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit stellte Andras fest, dass er durch das Fenster eine kleine Stadt sah, in der alle Straßenschilder und Geschäfte auf Deutsch beschriftet waren. Der Zug musste über die Grenze gehuscht sein, ohne dass Andras es bemerkt hatte; während er schlief, ein Buch mit Petőfi-Gedichten auf dem Schoß, hatten sie die landumschlossene Keimzelle Ungarns verlassen und die große weite Welt erreicht. Andras legte die Hände wie ein Fernglas an die Scheibe und suchte in den schmalen Straßen nach Österreichern, konnte aber keine entdecken; die Häuser wurden immer kleiner und lagen immer weiter auseinander, dann ging die Ortschaft in Landschaft über. Österreichische Scheunen, schummrig im Mondlicht. Österreichische Kühe. Ein österreichischer Karren, beladen mit silbrigem Heu. In weiter Ferne unter dem nachtblauen Himmel das dunklere Blau der Berge. Andras öffnete das Fenster ein paar Zentimeter; die Luft draußen war kühl und roch nach brennendem Holz.
    Er hatte das sonderbare Gefühl, nicht zu wissen, wer er war, als hätte er die Landkarte seiner eigenen Existenz verlassen. Es war das genaue Gegenteil der Empfindung, die er immer hatte, wenn er von Budapest ostwärts nach Konyár fuhr, um seine Eltern zu besuchen; auf jenen Fahrten zu seinem Geburtsort hatte er das Gefühl, tiefer zu seinem Selbst vorzudringen, sich einem wesentlichen Kern zu nähern wie der reiskorngroßen Miniatur in der Mitte der russischen Matrjoschkapuppe, die bei seiner Mutter in der Küche auf der Fensterbank stand. Doch was sollte er jetzt in sich sehen, in diesem Andras Lévi, der mit dem Zug durch Österreich nach Westen fuhr? Vor der Abreise in Budapest hatte er kaum darüber nachgedacht, wie schlecht vorbereitet er für ein Abenteuer wie dieses war, ein fünfjähriges Studium an einem Architekturkolleg in Paris. Wien oder Prag hätte er vielleicht gemeistert; er hatte immer gute Zensuren in Deutsch gehabt, die Sprache seit dem zwölften Lebensjahr gelernt. Aber es waren Paris und die École Spéciale, die ihn haben wollten, und jetzt würde er mit seinen zwei Schuljahren halb vergessenem Französisch zurechtkommen müssen. Andras kannte nur wenig mehr als ein paar Essensbezeichnungen, Namen von Körperteilen und lobende Adjektive. Wie alle Jungen an seiner Schule in Debrecen hatte er sich die französischen Wörter für die Sexstellungen gemerkt, die auf einem Satz alter Fotografien abgebildet waren, weitergereicht von einer Schülergeneration an die nächste: croupade, les ciseaux, à la grecque . Die Postkarten waren
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