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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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vorherigen Platz zurückbeordern. Aber es war nicht mehr zu ändern, das war offensichtlich; die Ältere hatte gewonnen, die Jüngere musste nun so tun, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen. Sie fing sich und glättete ihren grauen Rock, dann kehrte sie zu dem Sofa zurück, wo Andras saß.
    »Nun«, sagte sie und faltete die Hände. »Dann haben wir unsere Geschäfte jetzt wohl abgeschlossen. Ich hoffe, mein Sohn wird Ihnen in Paris eine Hilfe sein.«
    »Danke für alles«, sagte Andras. »Ist das die Kiste, die ich mitnehmen soll?«
    »Ja, das ist sie«, sagte Józsefs Mutter und führte ihn darauf zu.
    Die Holzkiste war groß genug für zwei Picknickkörbe. Andras hob sie an und machte einige schwankende Schritte auf die Tür zu.
    »Du liebe Güte«, sagte Frau Hász. »Schaffen Sie das?«
    Andras nickte stumm.
    »Oh, nein! Sie dürfen sich nicht so anstrengen!« Sie drückte auf einen Schalter an der Wand, und kurz darauf erschien erneut Simon. Er nahm Andras die Kiste ab und marschierte durch die Haustür nach draußen. Andras folgte ihm, und die ältere Frau Hász begleitete ihn bis zur Auffahrt, wo der lange graue Wagen wartete. Offenbar wollten sie ihn darin nach Hause bringen. Es war eine englische Marke, ein Bentley. Andras wünschte, Tibor könne ihn sehen.
    Józsefs Großmutter legte ihm eine Hand auf den Arm. »Vielen Dank für alles«, sagte sie.
    »Ist mir ein Vergnügen.« Andras verbeugte sich zum Abschied.
    Sie drückte seinen Arm und ging dann ins Haus; die Tür fiel lautlos hinter ihr ins Schloss. Als der Wagen anfuhr, sah Andras sich unvermittelt noch einmal nach dem Haus um. Er suchte die Fenster ab, ohne genau zu wissen, was er zu sehen erwartete. Dort rührte sich nichts, weder ein Vorhang noch der Schemen eines Gesichts hinter einer Scheibe. Andras stellte sich vor, wie die jüngere Frau Hász schweigend enttäuscht in den Salon zurückkehrte, während die ältere sich in die Tiefen hinter der butterfarbenen Fassade zurückzog und einen Raum betrat, dessen prallgepolsterte Möbel sie zu ersticken drohten, ein Zimmer mit Fenstern, die einen trostlosen Ausblick boten. Andras drehte sich um und legte einen Arm auf die Kiste für József, dann nannte er zum letzten Mal seine Adresse auf der Hársfa utca.

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    2.
Der Westeuropa-Express
    NATÜRLICH ERZÄHLTE ER TIBOR von dem Brief; ein solches Geheimnis hätte er ihm nicht vorenthalten können. In ihrem gemeinsamen Schlafzimmer nahm sein Bruder den Umschlag und hielt ihn gegen das Licht. Er war mit rotem Siegelwachs verschlossen, in das die ältere Frau Hász ihr Monogramm gedrückt hatte.
    »Was hältst du davon?«, fragte Andras.
    »Romantische Verwicklungen«, sagte Tibor und grinste. »Die Marotten einer betagten Dame, dazu eine fixe Idee über die Unzuverlässigkeit der Post. Ein ehemaliger Liebhaber, dieser Morgenstern auf der Rue de Sévigné. Würde ich sagen.« Er reichte Andras den Brief zurück. »Jetzt bist du auch Teil dieser Liebesgeschichte.«
    Andras schob den Brief in ein Fach seines Koffers und nahm sich vor, ihn nicht zu vergessen. Dann ging er zum fünfzigsten Mal seine Liste durch und stellte fest, dass es nichts anderes mehr zu tun gab, als nach Paris aufzubrechen. Um das Geld fürs Taxi zu sparen, lieh er sich mit Tibor einen Karren vom Lebensmittelhändler nebenan, und gemeinsam schoben sie Andras’ Koffer und die riesige Kiste für József bis zum Nyugati-Bahnhof. Am Schalter gab es eine kurze Unstimmigkeit wegen Andras’ Reisepass, der offenbar zu neu aussah, um echt zu sein; ein Ausreisebeamter musste konsultiert werden, dann ein noch höherer Beamter, schließlich sogar ein Ober-Beamter in einem mit goldenen Knöpfen verzierten Mantel, der ein kleines Zeichen an den Rand von Andras’ Reisepass machte und die anderen Beamten tadelte, ihn von seiner Arbeit abgehalten zu haben. Wenige Minuten, nachdem die Sache mit den Papieren erledigt war, hantierte Andras in seinem Lederranzen herum und ließ den Reisepass in den schmalen Spalt zwischen Bahnsteig und Zug fallen. Ein verständnisvoller Herr bot seinen Regenschirm an; Tibor schob den Schirm in den Spalt und bugsierte den Pass an eine Stelle, wo er ihn mit der Hand erreichen konnte.
    »Ich würde sagen, jetzt sieht er benutzt aus«, sagte er, als er ihn herauszog und Andras reichte. Der Reisepass war verdreckt und an einer Ecke eingerissen, wo Tibor ihn mit dem Regenschirm aufgespießt hatte. Andras verstaute ihn diesmal sorgfältig, und die beiden
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