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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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Gedächtnis, dass er kaum wahrnahm, wie jemand vor ihm stehen blieb und ihn ansprach. Er musste blinzeln und sich bewusst auf die Person konzentrieren, eine imposante Dame in aufgeplustertem Zobelmantel, der er offenbar im Weg stand. Andras verbeugte sich und trat beiseite.
    »Nein, nein«, sagte sie. »Sie stehen genau dort, wo Sie sein sollen. Welch ein Glück, Sie hier zu treffen! Ich hätte nicht gewusst, wie ich Sie sonst hätte ausfindig machen sollen.«
    Andras versuchte sich zu erinnern, wann und wo er diese Dame kennengelernt haben mochte. Eine Diamantkette funkelte um ihren Hals, unter ihrem fellgefütterten Mantel schaute der Rock eines rosenfarbenen Seidenkleids hervor; ihr dunkles Haar war zu einer Kappe eng anliegender Locken gesteckt. Sie führte ihn am Arm hinaus zur Eingangstreppe.
    »Das waren Sie doch letztens in der Bank, oder?«, fragte die Dame. »Sie waren das mit dem Umschlag voller Francs.«
    Jetzt erkannte Andras sie wieder: Es war Elza Hász, die Gattin des Bankdirektors. Andras hatte sie einige Male in der großen Synagoge auf der Dohány utca gesehen, wo Tibor und er gelegentlich freitagabends den Gottesdienst besuchten. Vor Kurzem war Andras in der Bank mit ihr zusammengestoßen, als sie die Eingangshalle durchquerte; sie hatte ihre gestreifte Hutschachtel fallen lassen, ihm war der Umschlag mit den Franc-Scheinen aus der Hand gerutscht. Der Umschlag hatte sich geöffnet, und die rosagrünen Banknoten waren wie Herbstlaub um ihre Füße geflattert. Andras hatte die Hutschachtel aufgehoben, sie Frau Hász zurückgereicht und beobachtet, wie sie durch eine Tür mit der Aufschrift PRIVAT verschwand.
    »Sie sehen aus, als wären Sie ungefähr im Alter meines Sohnes«, sagte sie nun. »Und aus der Währung Ihres Geldes schließe ich, dass Sie auf dem Weg zum Studium nach Paris sind.«
    »Morgen Nachmittag«, sagte Andras.
    »Sie müssen mir einen großen Gefallen tun. Mein Sohn studiert an der Beaux-Arts, und ich möchte gerne, dass Sie ein Paket für ihn mitnehmen, eine kleine Kiste. Wäre das eine allzu schlimme Zumutung?«
    Es dauerte eine Weile, ehe Andras antworten konnte. Die Zusage, ein Paket nach Paris zu befördern, bedeutete einzugestehen, dass er tatsächlich ging, dass er seine Brüder, seine Eltern und sein Land hinter sich lassen und in die unbekannte Weite Westeuropas aufbrechen würde.
    »Wo wohnt Ihr Sohn denn?«, fragte er.
    »Im Quartier Latin natürlich«, sagte sie lachend. »In einer Mansardenwohnung, nicht in so einer hübschen Villa wie unser Cavaradossi. Obwohl er schreibt, er hätte heißes Wasser und einen Blick aufs Panthéon. Ach, da kommt der Wagen!« Eine graue Limousine fuhr vor, und Frau Hász hob den Arm, um dem Chauffeur ein Zeichen zu geben. »Kommen Sie morgen Vormittag vorbei. Benczúr utca 26. Ich werde alles bereithalten.« Sie zog den Kragen ihres Mantels enger und hastete hinunter zum Wagen, ohne Andras noch eines Blickes zu würdigen.
    »Na!«, sagte Tibor und gesellte sich zu Andras auf der Treppe. »Du erzählst mir bestimmt, was das gerade war.«
    »Ich soll mich als internationaler Kurier betätigen. Madame Hász möchte, dass ich ihrem Sohn in Paris ein Paket übergebe. Sie hat mich letztens in der Bank gesehen, als ich Geld gewechselt habe.«
    »Hast du zugesagt?«
    »Ja.«
    Tibor seufzte und blickte hinüber zu den gelben Straßenbahnen, die den Boulevard entlangfuhren. »Es wird hier bestimmt schrecklich langweilig ohne dich, Andrácska.«
    »Blödsinn! Ich wette, es dauert keine Woche, und du hast eine Freundin.«
    »Na, klar! Die Mädchen sind ganz verrückt nach einem armen Schuhverkäufer.«
    Andras grinste. »Na endlich, ein wenig Selbstmitleid! Ich bin schon langsam verzweifelt, weil du so großherzig und verständnisvoll bist.«
    »Ganz und gar nicht. Ich könnte dich umbringen. Aber was würde das nützen? Dann würde keiner von uns beiden ins Ausland kommen.« Tibor grinste, doch seine Augen hinter dem silbernen Brillengestell waren ernst. Er hakte sich bei Andras unter und führte ihn, einige Takte der Ouvertüre summend, die Stufen hinab. Es waren nur drei Querstraßen bis zu ihrem Haus auf der Hársfa utca; vor der Tür blieben sie stehen und sogen noch einmal die Nachtluft ein, ehe sie zu ihrer Wohnung hinaufstiegen. Der Himmel über dem Operaház hinter ihnen war blassorange vom Streulicht, das Echo der Straßenbahnglocken klang vom Boulevard herüber. Im Halbdunkel fand Andras Tibor so schön wie einen Filmstar, keck, wie er
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