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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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könne einen Fleck auf der Seide hinterlassen. Die ältere Frau Hász faltete ihre schmalen Hände im Schoß und fragte Andras, was er in Paris studieren werde.
    »Architektur«, erwiderte er.
    »Tatsächlich? Dann werden Sie ja ein Kommilitone von József an der Beaux-Arts sein, nicht?«
    »Ich gehe auf die École Spéciale«, sagte Andras. »Nicht auf die Beaux-Arts.«
    Die jüngere Frau Hász nahm auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz. »Die École Spéciale?«, wiederholte sie. »Von der hat József noch nie gesprochen.«
    »Das ist eher eine Handwerksschule als eine Hochschule wie die Beaux-Arts«, sagte Andras. »So habe ich es wenigstens verstanden. Ich habe ein Stipendium von Izraelita Hitközség. Eigentlich war es ein glücklicher Zufall.«
    »Ein Zufall?«
    Und Andras erzählte: Der Chefredakteur von Vergangenheit und Zukunft , der Zeitschrift, bei der er arbeitete, hatte Andras’ Umschlagentwürfe für eine Ausstellung in Paris eingereicht – eine Werkschau junger mitteleuropäischer Künstler. Seine Arbeiten waren ausgewählt und ausgestellt worden; ein Professor von der École Spéciale hatte die Ausstellung gesehen und Erkundigungen über Andras eingeholt. Der Chefredakteur hatte dem Professor erklärt, dass Andras Architekt werden wolle, es aber für jüdische Studenten in Ungarn schwierig sei, einen Studienplatz zu bekommen: Ein längst überholter Numerus clausus, der die Zahl der jüdischen Studenten seit den Zwanzigerjahren auf sechs Prozent beschränkte, schwebte immer noch unheilvoll über den Universitäten. Der Professor von der École Spéciale hatte Briefe geschrieben und die Zulassungsstelle schriftlich ersucht, Andras einen Platz in einer Anfängerklasse zu geben. Der jüdische Gemeindeverband von Budapest, Izraelita Hitközség, hatte das Geld für Unterricht, Unterkunft und Logis aufgebracht. Es war alles innerhalb weniger Wochen über die Bühne gegangen, auch wenn es immer wieder ausgesehen hatte, als würde das Unternehmen doch noch ins Wasser fallen. War es jedoch nicht; Andras würde fahren. Sein Unterricht begann in sechs Tagen.
    »Aha«, erwiderte die jüngere Frau Hász, als er zu Ende berichtet hatte, »was für ein Glück! Und dann auch noch ein Stipendium!« Doch bei den letzten Worten senkte sie den Blick, und Andras wurde von einer Empfindung aus seiner Schulzeit in Debrecen heimgesucht: eine unerwartete Scham, als sei er bis auf die Unterwäsche entkleidet. Nur wenige Male hatte er damals unter der Woche den Nachmittag bei Mitschülern verbracht, die in der Stadt wohnten, deren Väter Anwälte oder Bankiers waren und die keinen Schlafplatz bei armen Leuten hatten – Jungen, die nachts allein in ihrem Bett schliefen, die in gebügelten Hemden zur Schule kamen und jeden Tag zu Hause Mittag aßen. Einige Mütter dieser Jungen hatten Andras beflissen mitleidig, andere angewidert distanziert behandelt. In ihrer Gegenwart hatte er sich nackt gefühlt. Jetzt zwang er sich, Józsefs Mutter anzuschauen und zu sagen: »Ja, es ist ein großes Glück.«
    »Und wo werden Sie wohnen?«, fragte sie.
    Andras rieb sich mit den feuchten Handflächen über die Knie. »Im Quartier Latin vermutlich.«
    »Aber wo werden Sie schlafen, wenn Sie ankommen?«
    »Ich muss mich vor Ort noch um ein Zimmer kümmern.«
    »Unsinn!«, sagte die ältere Dame und legte ihre Hand auf die von Andras. »Sie werden zu József gehen, das werden Sie tun.«
    Die jüngere Frau Hász hüstelte und betastete ihr Haar. »Wir sollten keine Zusagen in Józsefs Namen machen«, sagte sie. »Vielleicht hat er keinen Platz für einen Gast.«
    »Ach, Elza, du bist furchtbar hochnäsig«, sagte ihre Schwiegermutter. »Herr Lévi erweist József einen Dienst. Da wird er bestimmt ein Sofa für ihn erübrigen können, zumindest für ein paar Tage. Wir werden ihm heute Nachmittag telegrafieren.«
    »Da kommen die Sandwiches«, sagte die Jüngere, sichtlich erleichtert über die Ablenkung.
    Die Haushälterin schob einen Teewagen ins Zimmer. Neben dem Teeservice stand eine gläserne Kuchenplatte mit einem Berg von Sandwiches, so blass, als seien sie aus Schnee geformt. Am Fuß der Platte lag eine scherenähnliche Silberzange, wie zur Ermahnung, dass die Brote nicht für die Berührung von Menschenhand gedacht waren. Die ältere Dame griff zu der Zange und stapelte mehr Sandwiches auf Andras’ Teller, als er selbst zu nehmen gewagt hätte. Als die jüngere Frau Hász sich ohne die Hilfe von Silberbesteck oder Zange ein Sandwich
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