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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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1.
Ein Brief
    SPÄTER WÜRDE ER IHR ERZÄHLEN, dass ihrer aller Geschichte in der königlich-ungarischen Oper begonnen habe, am Vorabend seiner Abreise mit dem Westeuropa-Express nach Paris. Es war das Jahr 1937, der Monat September, der Abend ungewöhnlich kühl. Sein Bruder hatte darauf bestanden, ihn zum Abschied in die Oper einzuladen. Auf dem Programm stand Tosca , sie hatten Plätze ganz weit oben. Die drei Marmorbögen der Fassade, die korinthischen Säulen, die heroischen Statuen im Hauptgesims – nicht für sie. Für sie gab es einen bescheidenen Nebeneingang mit einem rotgesichtigen Kartenabreißer, einen abgewetzten Holzboden und abblätternde Opernplakate an den Wänden. Junge Mädchen in knielangen Kleidern stiegen Arm in Arm mit jungen Männern in fadenscheinigen Anzügen die Stufen hinauf; Pensionäre im Streit mit ihren grauhaarigen Ehefrauen schlurften die fünf schmalen Treppen empor. Oben dann ein fröhliches Geklirre: der mit Spiegeln und Holzbänken gesäumte Erfrischungssalon, die Luft neblig vor Zigarettenqualm. Eine Tür am hinteren Ende führte in den Konzertsaal, in diese gewaltige, elektrisch beleuchtete Höhle mit ihrem Deckenfresko aus griechischen Gottheiten und den mit Goldvoluten geschmückten Rängen. Andras hätte sich nie träumen lassen, hier jemals eine Oper zu sehen, und es wäre auch nie dazu gekommen, wenn Tibor nicht die Karten gekauft hätte. Doch Tibor war der Meinung, zu einem Aufenthalt in Budapest gehöre mindestens ein Abend Puccini im Operaház. In diesem Moment beugte sich Tibor über das Geländer und zeigte Andras die Loge von Admiral Horthy, die allerdings bis auf einen alten General in Husarenjacke verlassen war. Tief unten geleiteten Platzanweiser im Smoking die Herrschaften zu ihren Sitzen, Männer in Abendgarderobe, das Haar der Frauen funkelnd vor Schmuck.
    »Wenn Mátyás das doch sehen könnte«, sagte Andras.
    »Das wird er noch, Andrácska. Er kommt nach Budapest, wenn er sein Abitur hat. Und ein Jahr später wird ihm die Stadt zum Hals heraushängen.«
    Andras musste lächeln. Tibor und er waren nach Budapest gezogen, kurz nachdem sie den Abschluss am Gimnázium in Debrecen gemacht hatten. Aufgewachsen waren die drei Brüder in Konyár, einem kleinen Dorf in der nördlichen Tiefebene, und auch für die beiden Älteren war die Hauptstadt einst der Mittelpunkt der Welt gewesen. Jetzt plante Tibor, zum Medizinstudium nach Italien zu gehen, und Andras, der erst seit einem Jahr in Budapest war, würde am nächsten Tag zu einer Hochschule in Paris aufbrechen. Bis die Nachricht von der École Spéciale d’Architecture gekommen war, hatten alle gedacht, Tibor würde als Erster der beiden fortziehen. In den letzten drei Jahren hatte er als Verkäufer in einem Schuhgeschäft auf der Váci utca gearbeitet, Geld für das Studium zur Seite gelegt und nachts so verbissen über seinen medizinischen Lehrbüchern gebrütet, als stehe sein eigenes Leben auf dem Spiel. Als Andras ein Jahr zuvor bei Tibor eingezogen war, schien die Abreise des großen Bruders kurz bevorzustehen. Tibor hatte die Zulassungsprüfungen bereits bestanden und seine Bewerbung an die Medizinische Fakultät in Modena geschickt. Er vermutete, es würde etwa sechs Monate dauern, bis er angenommen wurde und sein Studentenvisum bekam. Doch dann hatte die Universität ihn auf eine Warteliste für ausländische Studenten gesetzt, und ihm war mitgeteilt worden, dass bis zu seiner Immatrikulation noch ein oder zwei Jahre vergehen könnten.
    Seit der Nachricht von Andras’ Stipendium hatte Tibor noch kein Wort über seine eigene Situation verloren, nicht die Spur von Neid erkennen lassen. Stattdessen hatte er Opernkarten gekauft und Andras bei den Reisevorbereitungen geholfen. Als nun das Licht schwächer wurde und das Orchester mit dem Stimmen der Instrumente begann, schämte Andras sich insgeheim: Obwohl er wusste, dass er sich bei umgekehrter Ausgangslage auch für Tibor freuen würde, war ihm klar, dass er dennoch seinen Neid wohl nur schwer würde verbergen können.
    Aus einer Tür neben dem Orchestergraben kam ein großer, spindeldürrer Mann mit flammender weißer Haarpracht ins Scheinwerferlicht. Begleitet von anerkennenden Rufen aus dem Publikum trat er ans Pult. Er musste sich noch dreimal verbeugen und kapitulierend die Hände in die Luft recken, ehe es ruhig wurde; dann drehte er sich zu den Musikern um und hob den Dirigentenstab. Nach einem Augenblick gespannter Stille brach das Brausen der
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