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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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er. »Außerdem sind die Passagiere in der ersten Klasse meistens auch erstklassig langweilig.«
    Andras nickte und aß schweigend. Die Brezel war noch warm, das Salz elektrisch auf der Zunge.
    »Ich nehme an, Sie bleiben nicht in Wien«, sagte der Mann.
    »Paris«, wagte Andras zu sagen. »Ich werde dort studieren.«
    Der Mann richtete seine von tiefen Falten umgebenen Augen auf Andras und musterte ihn ausgiebig. »Ein zukünftiger Wissenschaftler? Ein Ritter des Rechts?«
    »Architektur«, sagte Andras.
    »Sehr gut. Eine praktische Kunst.«
    »Und Sie?«, fragte Andras. »Wohin fahren Sie?«
    »Genau dahin, wo auch Sie hinwollen«, erwiderte der Mann. »Ich leite in Paris ein Theater, das Sarah-Bernhardt. Obwohl es wohl zutreffender wäre zu sagen, dass das Sarah-Bernhardt mich leitet. Wie eine anstrengende Geliebte, muss ich fast sagen. Theater – das ist eine wirklich unpraktische Kunst.«
    »Muss Kunst denn praktisch sein?«
    Der Mann lachte. »Nein, das stimmt.« Und dann: »Gehen Sie oft ins Theater?«
    »Nicht oft genug.«
    »Dann müssen Sie mal ins Sarah-Bernhardt kommen. Zeigen Sie meine Karte an der Kasse vor und sagen Sie, ich hätte Sie eingeladen. Sie wären ein compatriote von mir.« Der Fremde zog eine Visitenkarte aus einem goldenen Etui und reichte sie Andras. NOVAK Zoltán, metteur en scène, Théâtre Sarah-Bernhardt .
    Andras hatte schon mal von Sarah Bernhardt gehört, aber wusste nur wenig über die Schauspielerin. »Ist Madame Bernhardt dort aufgetreten?«, fragte er. »Oder …«, noch zögerlicher, »… tritt sie noch auf?«
    Der Mann faltete die Papierserviette seiner Brezel zusammen. »Früher«, sagte er. »Viele Jahre lang. Damals hieß es noch Théâtre de la Ville. Aber das war vor meiner Zeit. Madame Bernhardt ist schon lange tot, muss ich leider sagen.«
    »Ich bin ein Ignorant«, sagte Andras.
    »Ganz und gar nicht. Sie erinnern mich an meine Wenigkeit in jungen Jahren, als ich das erste Mal nach Paris ging. Sie werden zurechtkommen. Sie stammen aus einer guten Familie. Ich habe gesehen, wie Ihr Bruder sich um Sie gekümmert hat. Behalten Sie jedenfalls meine Karte. Zoltán Novak.«
    »Andras Lévi.« Sie gaben sich die Hand, dann kehrten sie in ihre Waggons zurück – Novak in den Schlafwagen erster Klasse, Andras zum geringeren Komfort der dritten.
    Die weitere Fahrt führte durch Deutschland, den Ausgangspunkt der um sich greifenden Angst, die Europa überzog. In Stuttgart gab es eine Verzögerung, ein technisches Problem, das behoben werden musste, weil der Zug sonst nicht weiterfahren konnte. Andras hatte inzwischen schrecklichen Hunger. Er hatte keine andere Wahl, als ein paar Franc in Reichsmark zu tauschen und sich etwas zu essen zu suchen. Am Wechselschalter musste er einer zahnlückigen Matrone in einem grauen Kittel ein Dokument unterschreiben, mit dem er versicherte, das eingetauschte Geld innerhalb der deutschen Grenzen auszugeben. Er fand ein Café in der Nähe des Bahnhofs, wo er hoffte, ein Butterbrot zu bekommen, doch an der Tür hing ein kleines, handgeschriebenes Schild: Juden unerwünscht . Er blickte durch die Glastür auf ein junges Mädchen, das hinter der Kuchentheke saß und ein Heft mit Bildergeschichten las. Sie war höchstens fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, hatte ein weißes Tuch um den Kopf und eine schmale glitzernde Goldkette um den Hals. Sie hob den Blick und lächelte Andras an. Er machte einen Schritt zurück und schaute auf das Geld in seiner Hand – auf die Münzen mit dem Reichsadler –, dann über die Schulter zurück zu dem Mädchen im Café. Diese wenigen Reichsmark waren nur ein paar Tropfen im großen wirtschaftlichen Blutkreislauf dieses Landes, doch plötzlich wollte Andras sie nicht mehr haben; er wollte nicht essen, was man mit ihnen kaufen konnte, selbst wenn er einen Laden fände, wo Juden nicht unerwünscht wären. Schnell hockte er sich hin, vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, und warf die Münzen in den hallenden Schlund eines Gullys. Dann kehrte er zum Zug zurück, ohne etwas gegessen zu haben, und fuhr hungrig durch die letzten hundert Kilometer Deutschland. Auf den Bahnsteigen auch noch des kleinsten deutschen Bahnhofs flatterten Hakenkreuzfahnen im Luftstrom des Zuges. Die rote Flagge hing von den höchsten Stockwerken der Gebäude herunter, zierte die Markisen von Häusern, tauchte im Kleinformat in den Händen einer Kindergruppe auf, die auf einem Schulhof abseits der Bahntrasse marschierte. Als der Zug
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