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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Autoren: Julie Orringer
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Einfluss. Und da sie nun das Problem gelöst hätten, wie Andras in Paris Fuß fassen könne, wolle er da nicht mit auf den Balkon kommen, um eine zu rauchen und seine neue Heimat zu bewundern?
    Andras folgte József durch das Schlafzimmer zu den hohen Balkontüren. Es war ein kalter Tag, der Nebel der vergangenen Nacht war in einen feinen Nieselregen übergegangen; die Sonne eine silberne Münze hinter einer wollenen Wolkendecke.
    »Bitte schön!«, sagte József. »Die schönste Stadt der Welt. Diese Kuppel da, das ist das Panthéon, und da drüben ist die Sorbonne. Links siehst du St.-Étienne-du-Mont, und wenn du dich hier vorbeugst, kannst du ein Stück von Notre-Dame sehen.«
    Andras legte die Hände auf die Brüstung und schaute auf das Meer grauer Gebäude, das sich unter dem kalten Nebelvorhang ausbreitete. Schornsteine drängten sich auf den Dächern wie exotische Vögel, und hinter einem Bataillon von Zinkmansarden schwebte der grüne Dunst eines Parks. Weit im Westen verschmolz der Eiffelturm mit dem Himmel. Zwischen Andras und diesem Wahrzeichen befanden sich Hunderte unbekannter Straßen, Tausende Geschäfte und Menschen; der Turm wirkte in der Ferne zerbrechlich vor den schiefergrauen Wolken.
    »Und?«, fragte József.
    »Ganz schön groß, was?«
    »So groß, dass einem nie langweilig wird. Ich muss in ein paar Minuten wieder los. Bin zum Mittagessen mit einer gewissen Mademoiselle Betoulinsky aus Russland verabredet.« József zwinkerte und rückte seine Krawatte zurecht.
    »Ah. Meinst du das Mädchen in dem Paillettenkostüm von gestern Abend?«
    »Leider nicht«, erwiderte József, und ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. »Das ist eine völlig andere Mademoiselle.«
    »Vielleicht kannst du mir eine abgeben.«
    »Keine Chance, alter Junge«, sagte József. »Die brauche ich leider alle für mich.« Damit schlüpfte er durch die Balkontür und ging in das große Vorderzimmer zurück, wo er sich den orangefarbenen Seidenschal wieder um den Hals band und eine weite Jacke aus rauchfarbener Wolle anzog. Er nahm Andras’ Mappe, Andras griff zu seinem Koffer, und gemeinsam fuhren sie mit dem Aufzug nach unten.
    »Ich würde dich ja gerne zu dieser Pension bringen, aber ich komme schon zu spät zu meiner Verabredung«, sagte József, als sie das Gepäck auf dem Bürgersteig abstellten. »Hier ist das Geld fürs Taxi gestern. Nein, ich bestehe darauf! Und komm irgendwann mal auf ein Glas vorbei, ja? Sag mir Bescheid, wie du zurechtkommst.« Er klopfte Andras auf die Schulter, gab ihm die Hand und ging pfeifend in Richtung Panthéon davon.
    Madame V, die Inhaberin der Pension, konnte Andras zwar einige sinnlose Brocken Ungarisch und viel unverständliches Jiddisch anbieten, aber keine Bleibe; mit Mühe machte sie ihm verständlich, er könne, wenn er wolle, auf der Couch im oberen Flur übernachten, doch eigentlich solle er sich besser sofort auf die Suche nach einer anderen Unterkunft machen. Immer noch benommen von der Nacht bei Jószef, wagte sich Andras weiter ins Quartier Latin vor, mischte sich unter sorgfältig ungepflegte Studenten mit Segeltuchtaschen, Künstlermappen, Fahrrädern, Stapeln politischer Flugblätter, verschnürten Bäckereikartons, Einkaufskörben und Blumensträußen. Er kam sich zu schick angezogen und zugleich provinziell vor, obwohl er dieselbe Kleidung trug, in der er sich eine Woche zuvor in Budapest noch elegant und großstädtisch gefühlt hatte. Auf einer kalten Bank an einem trostlosen kleinen Platz durchkämmte er seinen Sprachführer nach den Worten für Preis , Student , Zimmer und wie viel . Doch es war eine Sache zu wissen, dass chambre à louer auf ein vermietbares Zimmer hinwies; an einer Tür zu klingeln und sich auf Französisch nach dem chambre zu erkundigen, war etwas vollkommen anderes. Andras schlenderte von Saint-Michel zu Saint-Germain, von der Rue du Cardinal-Lemoine zur Rue Clovis, verfluchte dabei immer wieder seine Unaufmerksamkeit im Französischunterricht und machte sich auf einem kleinen Block Notizen über die Lage verschiedener chambres à louer . Er war völlig erschöpft, bevor er den Mut aufbrachte, auch nur an einer Tür zu klingeln, und irgendwann nach Sonnenuntergang zog er sich geschlagen in die jüdische Pension zurück.
    Während er in jener Nacht nach einer bequemen Position auf dem grünen Sofa im Flur suchte, stritten, rauchten, lachten und tranken um ihn herum junge Männer aus ganz Europa bis weit nach Mitternacht. Keiner von ihnen
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