Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
stand der Roadster. Die Beulen im Kotflügel und an der Karosserie waren nicht anders zu deuten. Es musste ein äußerst schmerzhafter Tod gewesen sein, besonders, weil das Auto so langsam gefahren war. Sie musste zuerst vorn auf das Auto geworfen worden und dann, als der Wagen bremste, heruntergerollt sein, woraufhin der Fahrer mindestens fünf Mal über Sigrid gefahren war, hin und zurück, sorgfältig und zielbewusst. Sie wurde an der Ecke vom Thomas Heftyes Platz gefunden, nicht weit entfernt vom Ritz, wo die Offiziere und ihre berauschten Glücksritterinnen tanzten. Aber sie hätte ebenso gut auf dem Weg zu mir gewesen sein können. Hatte sie denn nicht den Ring wieder aufgesetzt, mir zuliebe? Vielleicht war sie endlich zur Einsicht gekommen. Der Roadster war am Tatort zurückgelassen und noch in derselben Nacht in die Møllergaten gebracht worden.
    »Ist das Ihr Auto, Bernhard Hval?«
    »Ja.«
    »Wo waren Sie letzte Nacht?«
    »Zu Hause in meiner Wohnung. Ich habe geschlafen.«
    »Kann das jemand bestätigen?«
    »Nein.«
    »Sie haben den Wagen nicht benutzt? Behaupten Sie das? Dass Sie nicht gefahren sind? Wollen Sie, dass wir Ihnen das glauben?«
    »Ja. Jemand muss ihn gestohlen haben.«
    Ich musste zwei Tage in einer Zelle in der Møllergaten 19 verbringen. Schlaflos natürlich. Nicht nur meine eigenen Gedanken, auch die Schreie in meiner Nähe hielten mich wach. Ich hatte keine Angst. So viel kann ich sagen, wenn das von Interesse ist. Ich, der ich Angst vor Spiegeln hatte, hatte in der Zelle in der Møllergaten 19 im Oktober 1944 keine Angst. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich war kein Held. Ich sah Sigrids zweideutige Trauer, als sie in Besserud auf der Treppe stand, vor mir. Wie viel Einsamkeit kann man ertragen? Und man kann auch niemanden bitten, sie mitzutragen, denn dann ist es keine Einsamkeit mehr. Ich weinte die ganze Nacht. So war mein Geständnis. Dann wurde ich freigelassen. Jemand hatte für mich gebürgt. Es war die Nachbarin über mir. Sie hatte mich die ganze Nacht rumoren gehört. Was ich nicht verstand. Denn ich rumorte nicht mehr. Vielleicht wollte sie nur den Dienst wiedergutmachen, den ich ihr erwiesen hatte, als ich auf den bösartigen Leberfleck hingewiesen hatte. Oder sie verwechselte einfach ihre Nächte. Vielleicht log sie auch, dann war es eine edle Lüge. Aber es war auch gleich. Sie bürgte für mich. Ich habe ihr nie gedankt. Man bedankt sich nicht bei seinen Zeugen. Das spricht für Schuld. Der Fall wurde also zu den Akten gelegt. Ich wurde zu den Akten gelegt. Unfall. Gestohlenes Auto. Unbekannter Täter. Ich ließ sie in dem Glauben. Gut, dass ich nicht der Sachverständige in dem Fall war. Sigrid wurde zu den Akten gelegt. Und keiner soll behaupten, ich hätte sie nicht gewarnt. Bekam sie das, was sie verdiente, wie die Nachbarn der misshandelten Frau in Skarpsno behaupteten? Ich wiederhole: Nein. Niemand bekommt, was er verdient. Ich hätte sogar mit dem Roadster nach Hause fahren können. Ein Mechaniker hatte die Beulen herausgeklopft. Aber ich fuhr nicht heim. Ich fuhr zu dem alten Lagergebäude bei Vaters Fabrik, von der nur noch Ruinen übrig waren, zerbrochenes Glas, Ziegelsteine, verrostetes Werkzeug und Maschinenteile waren in dem hohen Gras festgewachsen. Und in dem Matsch und Schlamm entdeckte ich ein majestätisches Gerippe, die Reste von Hammer, unserem Pferd. Dort stellte ich den Roadster ein für allemal ab, wie ich dachte, und ging zurück durch die leeren, schmutzigen Kriegsstraßen. Weiß ein Mensch, wann er die falschen Schritte macht und seinem Schicksal unwiderruflich entgegengeht? Ahnt man es, wenn man den falschen Weg einschlägt, in dem Moment, in dem man den Fuß auf den Boden setzt? Ich denke schon. Und trotzdem gehen wir weiter. Wann schlugen Sigrid und ich die falsche Richtung ein? Der ganze Weg führte in die falsche Richtung. Doch zwischen den Schritten, die wir machten, gab es trotz allem eine Art Liebe, schwierig für andere zu sehen, aber umso deutlicher für uns, die wir sie erlebten, solange sie anhielt. Mein größter Fehltritt war, dass ich überhaupt hinaus unter die Menschen ging. Ich brachte ihnen Unglück und fügte ihnen Schaden zu. Ich war so von meinen eigenen Dingen erfüllt, dass es kaum Platz für andere gab. Alles, was ich mir nahm und mir holte, sollte dem Vorteil dienen, und das war ehrlich gemeint! Ich tat es Sigrid zuliebe. Oh du falscher geläuterter Thomas! Ein Lügner von Rang, das bin ich. Ich bin
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher