Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
schien, als würde das gesamte Personal schon um den Tannenbaum gehen. Ich rief, bekam aber keine vernünftige Antwort, nur unanständige Rufe zur Erwiderung und Hämmern an die Wände. Ich war im Labyrinth des Asyls auf Abwege geraten. Unwillkürlich kam mir der Gedanke: Gehöre ich vielleicht letztendlich hierhin? Da kam ich an einer Tür vorbei, die einen Spalt offen stand. Vorsichtig schaute ich hinein. Ein weißhaariger Greis saß an einem Pult und kaute auf einem Bleistift, und er kaute auf beiden Enden, denn der Stift war nicht angespitzt. Ich erkannte ihn trotz allem wieder. Es war der große Dichter, der jetzt nicht mehr so große Sprüche wagte. Nein, bei dem Kerl war nicht sehr viel Weihnachtliches zu finden. Er versuchte, etwas auf ein Papier zu kritzeln, aber es endete nur damit, dass er es in Stücke riss. Das Gleiche passierte noch einmal, der nächste Bogen verschwand in Fetzen, bevor er den Bleistift wieder in den Mund steckte und wie ein Biber darauf herumkaute. Oh je, was für ein Bild von einem Nobelpreisträger! Ich hätte ihn im Handumdrehen diagnostizieren können, doch vorher hätte ich eine gründliche Desodorisierung angeordnet, gern mit ätherischen Ölen und Rauchwerk, er stank bis zu mir hin. Wenn das nichts nützte, hätte ich zu übermangansaurem Kalium gegriffen, das auch bei Stinknasen angewendet wird. Und dann hätte ich ihn als in Besitz seiner fünf Sinne erklärt, doch geritten von Zwangsgedanken, Verfolgungswahn und anderen ungesunden Vorstellungen. Allein die Art und Weise, wie er auf den Bleistift biss! Ich konnte es mit bloßem Auge sehen. Und die Grimassen. Schließlich bekam ich doch noch Mitleid mit dem Alten, er tat mir leid. Ja, ich war so gerührt, dass ich ihm etwas schenken wollte. Ich hatte immer noch das Fahrtenmesser von der schrecklichen Abtrennung des Arms von Toras Sohn in meiner Arzttasche. Das holte ich heraus, trat einen Schritt in den Raum und legte die blanke Klinge auf den Tisch vor den Dichter. Sollte er es benutzen, wie er wollte.
    Schließlich fand ich den Weg zwischen jammernden und tränenüberströmten Verrätern hinaus.
    Der Mond stand fest in Kältekreisen. Der Bach, an dem ich entlangging, war eingefroren. Ich konnte in den steilen Wasserfällen das Dröhnen unter dem Eis hören, Wasser, das in sich selbst versiegelt war, Wasser, das weiterwollte, und weit entfernt Weihnachtsgesang, Kinderstimmen, Gelächter. Die Fenster der Häuser hinter den Bäumen und Zäunen sahen aus wie gelbe Abflüsse, in die die Nacht ablief. Ich fror. Ich hatte mich zu dünn angezogen, keinen Übermantel, keine Handschuhe, nackter Hals. Ich wollte mich noch mehr abhärten. Ich wollte aufhören zu frieren. Am Frognerpark zog ich die Schuhe aus, ließ sie in einer Schneewehe stehen und ging auf Strumpfsocken weiter mitten auf der Gyldenløve gate. In dem abgestellten Springbrunnen entledigte ich mich auch ihrer noch, der Strümpfe, und lief das letzte Stück barfuß. Die gesamte Zeit zwischen den Tagen schlug ich mich mit einer äußerst hässlichen Erkältung herum, die sich in Hals und Stirn festsetzte, Husten, Kopfschmerzen und einer unverantwortlich hohen Temperatur. Ich benutzte die Zeit, um den Entwurf meiner Doktorarbeit fertigzustellen. Die Anatomie des Gehens, es fehlten nur noch einige Hinweise und ein Vorwort, und gleich nach Silvester, als ich fieberfrei war, lieferte ich sie persönlich bei Direktor Thøger ab, damit er sie einmal durchsehen konnte, bevor die Fakultät eine Kommission einsetzte und einen würdigen Opponenten fand. Die Gerüchte liefen durch die Station. Bernhard Hval will disputieren. Wird Bernhard Hval disputieren? Es entstand eine gewisse Erwartung, was würde ihm dieses Mal einfallen? Geehrte Stinknasen! Ich spannte sie weiter auf die Folter. Das geschah ihnen nur recht. Ich würde sie reinlegen, wie üblich. Ich würde sie an der Nase herumführen! Eine Woche später wurde ich von Thøger zu sich gerufen. Ich ging dorthin, um Anerkennung einzuheimsen, und verließ das Büro beschämt und ungläubig. Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch. Die Abhandlung lag vor ihm.
    »Sie brauchen sich gar nicht erst zu setzen, Herr Hval.«
    Ein äußerst schwacher Einstieg.
    »Ich stehe ausgezeichnet, danke.«
    Er zeigte auf die Papiere.
    »Das ist nicht nur ein Machwerk, Hval. Das ist Diebesgut.«
    »Jetzt verstehe ich nicht ganz.«
    »Dann will ich Ihnen das näher erklären. Abgeschrieben, Hval. Sie haben von Professor Lund abgeschrieben. Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher