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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Mangel an fast allem, sogar an mir. Konnten wir nicht ein einfaches Dekret verkünden: Nazi, also zurechnungsfähig. Ich fand mit meinem Vorschlag kein Gehör. Es fiel nicht auf fruchtbaren Boden. Wir sollten sorgfältig zu Wege gehen. Die Gerechtigkeit sollte umfassend sein. Ach, was für ein Mischmasch. Der Frieden ist nie gerecht. Ich saß also von Angesicht zu Angesicht Kollaborateuren, Verrätern, Mitläufern und anderem Pack in dem gelben Zimmer in Gaustad gegenüber. Sie behaupteten, sie hätten den Verstand verloren. Wann haben Sie ihn verloren, sagten Sie? Vielleicht auf dem Weg hierher? Wollen wir uns aufmachen und nach ihm suchen? Sie wollten mich glauben machen, dass sie aufs Datum genau fünf Jahre lang unzurechnungsfähig waren. Ich war fast bereit, sie für unzurechnungsfähig zu erklären, da sie sich auf derartig leicht durchschaubare und sentimentale Behauptungen beriefen. Vielleicht wurden sie unzurechnungsfähig, als sie verloren, aber das ist eine andere Sache. Sie entschieden sich für die falsche Seite. Und man muss nicht verrückt sein, um sich für die falsche Seite zu entscheiden. Es gab sicher genauso viele Verrückte auf der richtigen Seite. Ich saß ihnen wie gesagt Aug in Aug gegenüber. Das Gesicht des Verlierers ist nicht schön. Aber wenn sie geglaubt hatten, sie könnten mich, den Verrücktesten von allen, hinters Licht führen, dann hatten sie sich gründlich getäuscht. Meine Methode war einfach, sinnvoll und etwas zeitaufwendig: Ich sah ihnen in die Augen, holte die Dettweiler heraus, spuckte kräftig hinein, schob sie wieder in die Innentasche und sagte: Cogitationis poenam nemo patitur. Übrigens, wo wohnen Sie? Wenn sie darauf antworten konnten, hielt ich sie für zurechnungsfähig.
    Heiligabend im selben Jahr geschah übrigens etwas, eine Episode. Ich hatte wie üblich Dienst. Ich halte mich gern an Traditionen, oder besser gesagt, die Traditionen halten sich gern an mich. Während die meisten in der Stadt ihre Geschenke auspackten und die Kerzen anzündeten, wurde ich gerufen, dieses Mal nicht nach Gaustad, sondern in die Psychiatrie von Vinderen, um mein Urteil abzugeben über einen Querkopf, der sich an den Besitztümern einer jüdischen Familie gütlich getan hatte, nachdem sie mit der Donau 1943 in den Tod geschickt worden waren. Zuerst konnte er nicht reden, simulierte Schock und Apathie mit offenen Augen. Dann behauptete er, dass er sich an nichts erinnerte, und verlangte, dass man ihm glaubte, obwohl die Wohnung, in der er wohnte, voll war mit Gemälden, Möbeln, Kaffeeservice und Vitrinen, die ganz offensichtlich nicht ihm gehören konnten, sondern Eigentum der Verstorbenen waren. Er widersetzte sich dieser Tatsache, solang es ging. Dann fiel ihm ein, dass er sich doch ein wenig erinnerte. Er hatte das alles nämlich von diesen Juden bekommen, es war ein Geschenk gewesen, ist es vielleicht nicht erlaubt, Geschenke entgegenzunehmen, auch wenn Krieg herrscht? Er hatte sogar Papiere darüber gehabt, mit Bestätigung und Unterschrift, aber die waren leider während der Befreiung verschwunden, und in der Zeit hatte man schließlich an anderes zu denken gehabt, nicht wahr? Er war silurisch von Anfang bis zum Ende. Ich war kurz davor, ihn für unzurechnungsfähig zu erklären und ihn so ein für alle Mal hinter Schloss und Riegel zu bringen. Aber glücklicherweise hörte ich auf die Vernunft. Die Scham ist trotz allem eine größere Strafe. Seinem Moratorium würde er sowieso nie entgehen. Übrigens, wo wohnen Sie eigentlich? Ich spuckte in die Dettweiler und erklärte diesen erbärmlichen Lumpen für geistig gesund. Das hatte er nun davon. Doch dann, als ich auf dem Weg nach draußen war, geschah das, was mir jetzt wieder eingefallen ist. Doch zunächst möchte ich an die Schweigepflicht erinnern. Pfarrer, Anwälte, Hebammen, Apotheker und Ärzte sind ihr unterworfen und können eine bis zu sechsmonatige Haftstrafe erhalten, wenn sie Geheimnisse unbedacht weitertragen oder Vertraulichkeiten ausplaudern. Die Schweigepflicht ist umfassend und darf nicht ausgehöhlt werden. Die strenge Diskretion ist unsere vornehmste Tugend. Deshalb nenne ich keine Namen, was diesen Besuch betrifft. Doch das ist die Ausnahme! Denn wir haben außerdem das Recht zu wissen. Deshalb entscheide ich mich dazu, dieses Ultimatum zu verwenden, während ich gleichzeitig nicht jede Diskretion beiseiteschiebe. Nomina sunt odiosa: An diesem Heiligabend verirrte ich mich auf den Fluren der Anstalt. Es
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