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Die unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra (German Edition)

Die unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Entdeckung des Mr. Penumbra (German Edition)
Autoren: Robin Sloan
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beklommene Stille tritt ein.
    »Na, egal«, sagt sie schließlich. »Der nächste Band in der Reihe ist … Moment.« Sie kramt in ihrer Hosentasche und zieht ein zerknittertes Stück Papier heraus. Es ist auf beiden Seiten mit Wörtern bedeckt, durchgestrichen und korrigiert, ausradiert und erneut hingekritzelt, wie bei einem außer Kontrolle geratenen Galgenmännchen-Spiel. Sie liest von links nach rechts, von oben nach unten und bewegt dabei die Lippen. Dann faltet sie das Blatt zusammen, stopft es wieder in die Tasche und verkündet: »Kingslake.«
    »Kingslake«, wiederholt Penumbra. Er holt das längliche Kassenbuch hervor, das Corvina bei seinem ersten Besuch konsultiert hat – den Katalog. Die Eintragungen sind handgeschrieben. Viele sind mit Kommentaren versehen, manche sind durchgestrichen. Sein Finger gleitet über KAEL , KANE , (s.   a. CAIN ), KEANE , KIM , KING und dann KINGSLAKE . Der Katalog nennt die genauen Koordinaten des Standorts.
    »Drei … dreiundzwanzig«, liest Penumbra. »Drei dreiundzwanzig. Warten Sie bitte hier.«
    Er geht nach hinten zu den hohen Regalen, an deren unteren Böden – etwa auf Augenhöhe Al-Asmaris – Messingschildchen mit Nummern angebracht sind. Er folgt ihnen bis zu III , schiebt die Leiter mit den Rollen zu der Stelle und hantiert mit der Arretierung am Fußende herum.
    Dann steigt er hinauf. Es stellt sich heraus, dass Regal XXIII sehr weit oben ist. Die Bibliothek am Galvanic College hat keine Leitern, dort verteilen sie ihre Bücher vernünftigerweise auf viele verschiedene Stockwerke. Penumbra um fasst fest die Sprossen und steigt mit langsamen, vorsichtigen Schritten hinauf – vorbei an V , vorbei an X , vorbei an XV und XX .
    In dieser Höhe kann er die Decke sehen – kann zweifelsfrei bestätigen, dass es dort eine Decke gibt, nicht nur dunkle Regale, die sich im Unendlichen verlieren. Er neigt den Kopf nach hinten, um besser sehen zu können. Da oben ist ein Bild, ein Deckengemälde, das sein gesamtes Blickfeld ausfüllt und ihn an ein Renaissancefresko erinnert. Stück für Stück setzt er das Bild zusammen: Kletterer in Umhängen auf einem steilen, felsigen Weg. Über ihnen dunkle Wolken und ein Blitz, der die Farbe wie ein Riss durchtrennt. Die Augen in den Gesichtern der Kletterer sind weit aufgerissen, die Zähne zusammengebissen. Sie strecken die Arme aus, halten sich gegenseitig an den Händen, ziehen sich gegenseitig vorwärts.
    Er senkt den Blick, sucht nach Regal XXIII und erspäht seine Beute. Der Band ist so dick wie ein Lexikon, auf dem Buchrücken steht in Druckbuchstaben K INGSLAKE . Er hakt sich mit einem Ellbogen am Holm der Leiter ein, löst die andere Hand von der Sprosse und greift in Richtung des Buchs. Er streckt mit zappelnden Fingern die Hand aus, bekommt den Buchrücken zu fassen, einmal, zweimal, zupft das Buch heraus und kippt es nach vorn, bis es schließlich unter seinem eigenen Gewicht herausrutscht. Er weiß, jetzt muss er es packen, nur dass er sich plötzlich seiner Masse bewusst wird und fürchtet, dass er es nicht halten könnte, dass es ihm zu schwer wäre, dass es ihn nach unten …
    Das Buch fällt.
    Er hat genügend Zeit, seinen Leichtsinn zu begreifen und sogar darüber nachzudenken, wie er diese Aufgabe anders hätte angehen können, während er beobachtet, wie das Buch, sich überschlagend, nur leicht flatternd, an den zweiundzwanzig tiefer gelegenen Regalböden vorbei nach unten stürzt – und in den ausgebreiteten Armen von Marcus Corvina landet.
    ***
    Unten steht die junge Frau, in deren Augen sich Entsetzen spiegelt – vielleicht aus dem Gefühl heraus, mit Schuld an dem Vorfall zu haben. Sie nimmt das Buch von Corvina entgegen, bedankt sich leise flüsternd und hastet zur Tür. Der Verkäufer öffnet das breite ledergebundene Buch auf dem Schreibtisch und beginnt etwas hineinzuschreiben.
    Penumbra nähert sich vorsichtig. »Tut mir leid, Marcus«, sagt er zaghaft. »Ich hätte nicht …«
    Corvina hebt den Kopf. Er lächelt – es ist erst das zweite Mal, dass Penumbra diesen Ausdruck in seinem Gesicht sieht. »Ich habe dreimal ein Buch fallen lassen und Mo nie ein Sterbenswörtchen davon gesagt. Also, was mich angeht … Ich habe nichts gesehen.«
    Penumbra nickt. »Danke.«
    Corvina beendet seine Eintragung, klappt das Buch wieder zu und klopft dann bedeutungsvoll mit dem Stift darauf. »Weißt du, Leute wie Evelyn Erdos sind die richtigen Kunden.«
    »Die richtigen Kunden?«
    »Ja, die
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