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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter
Autoren: Petra Oelker
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zurechtbog, die stets das richtige Wort fand. Er begriff nicht, dass sie auch diesmal die richtigen Worte
     gefunden hatte, sondern fühlte sich verraten. Er hatte gedacht, sie sei seine Verbündete, ganz besonders in dieser Sache,
     nun war er dessen nicht mehr sicher.
    «Zacharias», Theas Stimme klang nun wieder ruhig, auch wenn sie noch ein wenig atemlos schien, «Anna tut nichts, was dir schadet.»
    «Mir schadet? Es reicht, wenn sie sich selbst schadet. Dass sie an den Ruf meiner Familie denkt, erwarte ich schon gar nicht
     mehr. Glaube mir, Thea, wenn sie wieder etwas mit dem jungen Paulung angefangen hat, dann, verdammt, dann weiß ich nicht,
     was ich tue. Das kannst du ihr sagen. Und ihm auch, du scheinst sehr vertraut mit ihm zu sein.»
    Bevor Thea auch nur nach ihrem Stock greifen und aufstehen konnte, stürzte er hinaus, riss seine Jacke vom Haken und ließ
     die Tür hinter sich zufallen. Sosehr sie sich auch beeilte, als sie vor ihr Haus trat, war er nur noch ein dunkler Schatten
     auf dem Weg nach Altona, den gerade der Nebel verschluckte. Sie stützte sich müde auf ihren Stock, es hatte keinen Sinn, ihm
     nachzurufen, er würde nicht umkehren. Es war dumm gewesen zu glauben, sie könne ihm so einfach den Kopf zurechtrücken und
     danach sei alles gut. Sie wünschte sich sehnlich, dass alles gut werde, doch vielleicht war ihr Weg der falsche. Hatte sie
     ihm die Wahrheit gesagt? Was wusste sie, undwas wusste sie nicht? Wo war die Grenze zwischen wissen und nicht wissen?
    GEGEN MITTAG
    Der Mann schob seine Mütze in den Nacken, kratzte sich über dem linken Ohr und betrachtete mit vorgeschobener Unterlippe das
     kleine Stück Papier in seiner Hand. Ein Schnaps, ein paar Krümel Tabak oder eine Kupfermünze, der übliche Obolus für einen
     Fuhrknecht, wäre ihm lieber gewesen. Vielleicht hätte er die Truhe doch nicht ganz so achtlos von seiner Karre auf die Straße
     rutschen lassen sollen.
    Helena Becker seufzte. «Na gut», sagte sie und griff ein zweites Mal in ihre Rocktasche. Leider holte sie auch diesmal kein
     Kupferstück heraus, sondern ein zweites dieser dummen Papierschnipsel. «Zwei Billetts sind aber wirklich mehr als genug. Jedes
     ist fünf Schillinge wert, und die Plätze auf der Galerie sind bei diesem Wetter die besten, da oben ist es immer hübsch warm.»
    «Soso», brummte der Kärrner und noch etwas, das nach «Tanzmamsellen» und «fremdländischen Sitten» klang. Er stopfte die Eintrittskarten
     für die Becker’sche Komödie achtlos in seine Joppe, wuchtete die Karre hoch und verschwand im Gedränge auf der Elbstraße.
    Noch immer hing über der Stadt ein Dunst, der alle Farben grau machte, doch der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und nun,
     gegen Mittag, war es endlich taghell.
    «Helena!» Eine schlanke Gestalt, wie Madame Becker in ein dunkelgraues Wolltuch gewickelt, drängte sich an einem mit Fässern
     beladenen Fuhrwerk vorbei, sprang über eine mit schwarzem Wasser und Unrat gefüllte Pfützeund landete direkt neben Helena vor der Tür von Melzers Kaffeehaus an der Einmündung der Brauerhof genannten Gasse.
    «So ein grässliches Wetter. Wäre es nicht so kalt, fühlte man sich wie in einem Waschhaus.»
    Sie zog mit einer raschen Bewegung das Tuch von Kopf und Schultern und schüttelte es kräftig. Rosina war Mitte zwanzig, etwa
     ein Jahrzehnt jünger als Helena, und wie sie Komödiantin in der Becker’schen Gesellschaft. Während die Ältere mit ihrer fülligen
     Gestalt, ihrer bei Bedarf und in zornigen Momenten äußerst würdigen Haltung auf der Bühne für die stolze Heroine, huldvolle
     Königin oder die entsagungsvoll Liebende prädestiniert war, gehörten zu den ersten Rollen der Jüngeren die heitere Schäferin,
     die Primaballerina oder die muntere, stets Schabernack treibende jugendliche Mamsell. Ihre Spezialität waren Hosenrollen,
     beim Publikum im Parkett wie auf der Galerie außerordentlich beliebt. Ganz und gar unverzichtbar für ihren Prinzipal machte
     sie jedoch ihr für ein Mitglied einer so kleinen Theatergesellschaft ungewöhnlich lieblicher Sopran. Und wie der größte Spaßmacher
     auf der Bühne im wahren Leben oft ein Griesgram und Misanthrop ist, waren auch die Temperamente der beiden Frauen, sobald
     sie das Theater verließen, oft vertauscht.
    «Es nützt nichts», sagte Rosina und betrachtete grimmig den von der Feuchtigkeit schwer herabhängenden Umhang. «Weiß der Himmel,
     wann das Ding jemals wieder trocken sein wird. Ist das
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