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Das Dorf in der Marsch

Das Dorf in der Marsch

Titel: Das Dorf in der Marsch
Autoren: Hannes Nygaard
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EINS
    Der stetig aus Nordwest blasende Wind war heute eher eine Brise. Er streifte von der Nordsee über das Wattenmeer, kroch unsichtbar an der Außenseite des Seedeichs bis zu dessen Krone empor und ließ sich auf der steileren Binnenseite wieder hinabfallen, um sanft die saftig grüne Marsch zu streicheln. Heute hing nahezu ein Hauch Poesie über dem Land. Die Knicks und wenigen Baumgruppen hatten das sommerlich frische Grün gegen ein dunkleres getauscht. Beim näheren Betrachten waren an den Rändern der Blätter die ersten herbstlichen Laubfärbungen zu erkennen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der gewöhnlich eher frische Wind die bunten Blätter von den Bäumen fegen würde und der Herbst Einzug hielt. Davon war heute aber noch nichts zu merken.
    Die vereinzelten Zirruswolken am tiefblauen Himmel wirkten, als hätte sie jemand mit hauchfeinem Pinselstrich ans Firmament hingetüncht. Sie zogen nur mit mäßiger Geschwindigkeit landeinwärts.
    Reimer Reimers atmete tief die reine Seeluft ein. Dies war seine Welt, nicht nur an einem schönen Septembertag wie heute, auch sonst, wenn die langen und hellen Sommertage vergingen, der oft stürmische Herbst die Regentschaft übernahm oder der nasskalte Winter es unbehaglich werden ließ. Hier war er geboren und aufgewachsen. Er konnte sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben als in der Weite Eiderstedts, direkt hinterm Deich, nur durch die mäßig befahrene Landesstraße von der See getrennt.
    Ob Yannick das schon verstand?, fragte er sich und streichelte liebevoll über den Kopf des Vierjährigen, dessen Wangen vor Anstrengung glühten, als er mit seinen kurzen Beinen mächtig in die Pedale trat, um den Trettrecker mit der Schaufel vorweg in Bewegung zu halten.
    Â»Papa?«, fragte Yannick kurzatmig. »Darf ich nachher mit auf die Wiese?«
    Â»Wenn du artig bist«, sagte Reimers lachend.
    Natürlich würde er seinem Sohn diesen Wunsch nicht abschlagen. Seit er von klein auf mit seinem Vater auf dem Traktor unterwegs war, interessierte sich Yannick für alles, was mit dem Leben auf einem Bauernhof zusammenhing. Für Reimers gab es keinen Zweifel daran, dass Yannick einmal den Hof übernehmen würde, wie er es von seinem leider viel zu früh verstorbenen Vater getan hatte. Seit Generationen bewirtschafteten die Reimers das Land in diesem Teil der grünen Halbinsel.
    Es hatte seine Berechtigung, dass die achtzehn Kirchen der Halbinsel als bedeutende Kulturdenkmäler galten, stammten sie doch fast alle aus dem zwölften Jahrhundert. Ob die Menschen die Gotteshäuser damals als Dank dafür errichtet hatten, dass Gott ihnen eine so wunderbare Region zur Heimat geschenkt hatte?, hatte Reimers früher einmal überlegt, als er oben auf dem Deich saß und seinen Blick über die Weite des Landes hatte streifen lassen. Zur anderen Seite des Küstenschutzbauwerks erstreckte sich der Heverstrom, der Husum mit der See verband und sich als Tiefwasserarm durch das Weltnaturerbe Wattenmeer schlängelte.
    Â»Wann kommt Mama aus der Schule?«, fragte Yannick.
    Â»Das dauert noch zwei Stunden.«
    Â»Ich will auch in die Schule.«
    Â»Da musst du noch zwei Jahre warten«, sagte Reimers.
    Karen, seine Lebenspartnerin und Yannicks Mutter, unterrichtete als Lehrerin die Schüler in der Tetenbüller Grundschule, die mit ihrer geringen Schülerzahl eine Außenstelle der Gardinger Theodor-Mommsen-Schule war.
    In diesem abgelegenen Teil Deutschlands war die Welt noch überschaubar, lebten die Menschen nicht in der Anonymität und der räumlichen Enge der Metropolen. Hier waren es oft Kilometer bis zum nächsten Nachbarn. Trotzdem kannte man sich, wusste voneinander. In den Straßenschluchten der Großstadt konnte es vorkommen, dass man den Nachbarn, der Wand an Wand mit einem lebte, nie zu Gesicht bekam.
    Â»Wo ist Oma?«, fragte Reimers.
    Â»In der Küche. Macht was zu essen.«
    Â»Was denn?«
    Â»Weiß nicht. Wann fahren wir zu den Bullen?«
    Â»Gleich«, sagte Reimers. »Kannst schon mal deinen Trecker an die Seite stellen.«
    Â»Musst du noch in den Stall?«, wollte Yannick wissen.
    Â»Da war ich schon. Ich will nur noch schnell zum Fermenter gucken«, erklärte Reimers.
    Â»Musst du etwas nachladen?«, fragte der Junge. Er sprang von seinem Spielzeugtrecker und ließ das Gefährt dort stehen, wo er
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