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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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dunkelte schon, als sie aus dem Gottesdienst heimkehrten. Heute war der Tag der heiligen Lucia, das Fest des Lichtes. Gertrud schritt andächtig zwischen ihrem Großvater und ihrer Großmutter. Sie hatte ihr bestes Kleid an und einen neuen Mantel und machte ein feierliches Gesicht, denn sie durfte das Licht nach Hause tragen. Sie hatte die Entführung gut überstanden, nichts war zurückgeblieben außer gelegentlichen Albträumen, aus denen sie weinend erwachte. Doch wenn Wendel oder Melisande sie auf den Arm nahmen, schlief sie sofort wieder ein. Vermutlich war sie noch zu klein gewesen, um zu begreifen, was geschehen war.
    Melisande hatte sich bei Wendel untergehakt. Ihr Bauch hatte sich bereits ein Stück gerundet, im kommenden Sommer würde Gertrud tatsächlich ein Geschwisterchen bekommen.
    Neben Wendel und Melisande gingen Irma und Lorentz, der Friedel an der Hand hielt. Irma summte vor sich hin, Friedel plapperte von den Geschenken, die auf ihn warteten, und hüpfte durch den Schnee, der wie ein festliches Damasttuch auf den Straßen lag und ihre Schritte dämpfte.
    Die Dienstboten waren bereits vorgelaufen. Walburg wollte nach dem Braten sehen, Berbelin den Tisch decken und Selmtraud das Feuer schüren, damit sie es richtig warm hatten. Michel und Wolfgang mussten noch die Tiere versorgen, und Bart sollte ein paar Krüge vom besten Wein aus dem Keller heraufholen. Denn heute, an dem Tag, an dem Lucia den Menschen das Licht brachte, gab es gleich mehrfachen Grund zu feiern: Die Kinder bekamen ihre Geschenke, weshalb sie beinahe vor Vorfreude platzten; Irma wusste seit einigen Tagen sicher, dass auch sie zum zweiten Mal ein neues Leben in sich trug, und freute sich unbändig, dass sie wieder gleichzeitig mit ihrer Freundin schwanger war; Katherina und Erhard waren am Mittag aus Reutlingen angereist, um gemeinsam mit ihrem Sohn und seiner Familie den Festtag zu begehen. Und nicht zuletzt waren vor einigen Tagen zwei weitere Gäste eingetroffen, über deren Besuch Melisande sich ganz besonders freute: Meister Henrich und seine Gemahlin Mathilde. Der Bierbrauer aus Esslingen war der einzige Freund gewesen, den Melisande in ihrer Zeit als Henker gehabt hatte. Sie hatte lange gezögert, bevor sie ihm die Einladung geschrieben hatte, da sie nicht wusste, wie er darauf reagieren würde. Wer sie in Wirklichkeit war, hatte sie ihm erst in Rottweil mitgeteilt. Meister Henrich war aus allen Wolken gefallen, als er erfuhr, dass in der jungen Frau der stumme Neffe des alten Henkers Raimund vor ihm stand, und hatte sie dann unter Tränen in den Arm genommen. Seine Gemahlin hatte wortlos gelächelt und Melisande zugezwinkert.
    Die beiden hatten Saphira aus Esslingen mitgebracht, die vor Freude darüber, ihre Herrin wiederzusehen, gar nicht mehr aufgehört hatte, Melisande mit ihrem weichen Maul in den Nacken zu stupsen.
    In Esslingen wusste inzwischen jeder, dass Melisande Wilhelmis noch lebte, dass sie den Anschlag auf ihre Familie überlebt hatte. Nur darüber, was sie in all den Jahren getan hatte, hatte der Rat beschlossen, Stillschweigen zu bewahren. Es gab zwar vielerlei Gerüchte, doch die wenigen Menschen, die die Wahrheit kannten, schwiegen beharrlich.
    Konrad Sempach hatte rechtzeitig davon erfahren, dass man ihm auf der Spur war, und war aus der Stadt geflohen. Genützt hatte es ihm nicht. Drei Tage nach seinem Verschwinden hatte man seine sterblichen Überreste in einer Schlucht gefunden. Die wilden Tiere hatten sich bereits so gründlich an ihm gütlich getan, dass es nicht mehr möglich gewesen war zu sagen, woran er gestorben war. Vielleicht war er verunglückt oder das Opfer eines Überfalls geworden. Vielleicht hatte er sich selbst gerichtet. Es spielte keine Rolle mehr. So oder so waren alle davon überzeugt, dass die gerechte Hand Gottes eingegriffen und den Verbrecher bestraft hatte.
    Auf der Adlerburg hatte tatsächlich der junge Nicklas das Regiment übernommen, unter den strengen Augen des Kämmerers und einiger Vertrauter des Landesherrn. Er sollte das Lehen verwalten, bis sein kleiner Bruder Ottmar alt genug war. Es hieß, dass Nicklas ein kluger und gütiger Herr war, der sein Brüderchen liebte und verwöhnte, wo es nur ging.
    Die Vorwürfe gegen Melisande, was den Tod von Merten de Willms anging, hatte Erhard Füger mit dem Schreiben entkräftet, das er aus dem Besitz von Godehart von Bräseln mitgebracht hatte. Eine Kopie der Aufzeichnungen hatte er an Mertens Vater geschickt, damit dieser endlich
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