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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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werde Euch zur Strecke bringen, Euch und Eure Brut.« Mit einer lässigen Bewegung warf er sein Schwert ins Gras.
    Melisande war immer noch verwirrt. Wo waren sie? Was geschah hier? Es musste früh am Morgen sein, denn das Gras schimmerte nass. Ein Herbsttag? Oder war das der Tau, der im Frühjahr auf den Wiesen lag und glitzerte wie tausend Edelsteine? Nein, es musste Herbst sein – es roch nicht nach Frühling, es roch nach Winter, nach fauligem Laub, nach erbarmungsloser Kälte und Tod.
    De Bruce kam auf sie zu, legte ihr seine Pranken um den Hals und drückte zu. Schmerz schoss ihr durch die Kehle, Panik stieg in ihr auf, sie wollte atmen, doch de Bruce drückte ihr die Luft ab, die sie zum Leben brauchte. Das war schon immer so gewesen. Er hatte ihr die Luft zum Leben genommen, bis sie ihn getötet hatte. De Bruce war tot. Er konnte ihr nichts mehr anhaben!
    »Ihr seid tot. Ihr seid tot!« Melisande schlug mit den Fäusten auf de Bruce ein, der aber nur laut lachte und noch fester zudrückte. Sie trat um sich, japste nach Luft, Feuerräder tanzten um ihre Augen.
    »Melissa! Melissa!« De Bruce rief ihren Namen, immer wieder, aber es war gar nicht ihr Name. »Melissa!«
    Melisande schlug de Bruce’ Arme weg, holte Luft wie eine Ertrinkende.
    »Melissa, beruhige dich!«
    Wer war Melissa?
    Der Druck auf ihrer Kehle verschwand, es wurde dunkel, der Geruch nach Winter und Tod machte dem Duft von Lavendel und frischem Stroh Platz – und auf einmal fiel ihr ein, wer Melissa war. Sie selbst war Melissa, und es war nicht Ottmar de Bruce, der nach ihr rief. Sie ließ ihre Arme fallen, und schon strich eine warme Hand über ihre schweißnasse Stirn.
    »Melissa«, flüsterte die Stimme, die sie kannte und liebte.
    Sie öffnete die Augen. Nicht de Bruce beugte sich über sie, sondern Wendel, ihr Gatte, der Vater ihrer Tochter. Er hielt sich mit der Rechten die rot glühende Wange, mit der Linken griff er ein Tuch und tupfte ihr behutsam die Stirn trocken. »Du hast wieder geträumt und um dich geschlagen. Diesmal war es die rechte Wange.«
    Melisande seufzte. »Tut es sehr weh?«
    »Ja, es tut weh, aber es ist ein süßer Schmerz.« Er lachte leise. »Du hast die Arme eines Schwertkämpfers.«
    »Es tut mir leid.«
    »Ich weiß. War es wieder derselbe Traum?«
    Melisande presste die Lippen zusammen. Ja, es war der Traum gewesen, der sie seit zwei Jahren verfolgte. Sie hatte gehofft, mit dem Tod von Ottmar de Bruce würde alles gut werden, doch der Graf ließ ihr auch über das Grab hinaus keine Ruhe. Nacht für Nacht schwor er Rache, bedrohte er sie mit seinem Schwert, legte er ihr die bärenstarken Hände um den Hals. Er war tot, von ihrer Hand gestorben, er konnte ihr nichts mehr anhaben. Doch nachts, wenn sie schlief, bewies er ihr, dass er immer noch Macht über sie hatte.
    »Es ist alles gut«, erwiderte sie, doch sie sah in Wendels Augen, dass er ihr nicht glaubte. Was sollte sie ihm denn sagen? Dass sie ihn getäuscht hatte? Dass sie nicht Melissa de Willms aus Augsburg war? Dass sie vielmehr Melisande Wilhelmis war, die wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen war, als Ottmar de Bruce ihre ganze Familie abschlachten ließ, und dass sie danach beim Henker von Esslingen aufgewachsen war und dessen Handwerk erlernt hatte? Sollte sie ihm sagen, dass sie selbst es gewesen war, die ihn, ihren geliebten Wendel, im Kerker von Esslingen gefoltert hatte, hatte foltern müssen, um ihn zu retten? Dass sie es gewesen war, die Ottmar de Bruce schließlich getötet und damit das Schicksal herausgefordert hatte?
    Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf Wendels sanfte Hände, genoss die Liebe, die aus jeder Berührung sprach, ebenso wie die Sorgen, die er sich um sie machte. Ein Geräusch ließ sie hochschrecken. »Ist jemand im Zimmer?«
    »Nein, Liebste, das ist der Wind, der an den Läden rüttelt. Er hat die Wolken vertrieben. Das Wetter ist über Nacht umgeschlagen, bestimmt bekommen wir einen herrlichen Sommertag.«
    Melisande lauschte. Er hatte Recht. Außer dem leisen Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Offenbar schlief die Stadt noch. »Ich bin gleich wieder bei dir.« Sie strich Wendel über den Arm, schlüpfte aus dem Bett und trat ans Fenster. Sie drückte die Läden ein kleines Stück auf und spähte hinaus. Nichts rührte sich auf der Straße vor dem Haus. Selbst der Nachtwächter war nirgends zu sehen. Doch der Himmel wurde bereits grau. Bald würde es vom Kloster der Dominikanerbrüder her zur
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