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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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Laudes läuten, und kurz darauf würde die Stadt zum Leben erwachen. Rottweil, ihre neue Heimat. Hier lebte es sich ganz anders als in Esslingen, wo sie aufgewachsen war. Die Bräuche waren anders, der Singsang der Sprache und vor allem die Aussicht. Da die Stadt hoch über dem Neckartal thronte, konnte man hier vom Stadttor aus den Blick weit in die Ferne schweifen lassen.
    Die Morgenluft war mild und kühlte Melisandes heiße Stirn. Langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie gähnte. Doch zum Schlafen würde sie nicht mehr kommen. Ein langer Tag lag vor ihnen. Ein mächtiger Handelszug aus Italien sollte heute ankommen, mit über fünfzig Fässern Wein für ihr Geschäft. Rottweil würde kopfstehen, denn außer dem Wein würden auch seltene Tuche, Gewürze, Spezereien und vor allem sündhaft teures Glas aus Venedig angeliefert werden. Wenn nur der Zug heil die Stadt erreichte! Nicht nur Wendels und ihr Geschick hingen davon ab, sondern das eines weiteren halben Dutzends braver Rottweiler Bürger, die wie sie ein Vermögen in den Ankauf der kostbaren Handelsgüter gesteckt hatten. Und der Rest der Woche versprach nicht weniger Aufregung: Am Mittwoch erwartete Wendel seine Mutter, die angekündigt hatte, sie zu besuchen – eine seltene Freude, die ihnen nur zuteilwurde, wenn es ihr gelang, sich unter einem Vorwand aus Reutlingen zu entfernen.
    »Komm wieder ins Bett, Liebste.« Auffordernd hob Wendel die Decke an.
    Melisande kroch zurück ins warme Nest. Noch ein paar Augenblicke die Ruhe genießen! Sie nahm Wendels Hand und küsste sie. Die Zeit bis zum Hahnenschrei würden sie nutzen. Sie war bereit, ein zweites Kind zu empfangen.
    Als wenig später die ersten Geräusche im Haus zu vernehmen waren, wand sich Wendel mit einem Seufzer aus dem Bett. Melisande betrachtete ihn und strich sich über den Bauch. »Ich glaube, vorhin ist es passiert. Und diesmal wird es ein kräftiger Junge.«
    »Wirklich?« Er sah sie an und lächelte glücklich. »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden. Aber nur, wenn er genauso wunderbar wird wie unsere Gertrud.«
    »Versprochen. Und jetzt eile dich. Was sollen die Mägde von uns denken?«
    »Lass uns lieber einen Namen für unseren Sohn suchen.« Er trat zu ihr und küsste sie auf die Nasenspitze.
    »Raimund. Wenn es ein Sohn wird, soll er Raimund heißen.« Sie musste einen Moment die Augen schließen, denn der Name löste eine Flut Erinnerungen in ihr aus. Raimund war ihr Ziehvater gewesen. Raimund, der Henker von Esslingen.
    »Raimund? Was für eine ungewöhnliche Wahl.«
    »Ich kannte einmal einen Raimund. Das war ein sehr kluger Mann.«
    »Dann ist es beschlossen.« Rasch schlüpfte Wendel in seine Kleider und verließ die Schlafkammer.
    Melisande genoss die wenigen Augenblicke der Ruhe. Sie flocht ihr rotes Haar zu zwei Zöpfen, die sie hochsteckte, damit sie besser unter die Haube passten, und betrachtete ihr Gesicht in dem kostbaren kleinen Silberspiegel, den Wendel ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Wendel … Sie hatte ihn dem Schicksal abgetrotzt, und um nichts in der Welt würde sie ihn wieder hergeben! Sie lächelte ihr Ebenbild an, legte den Spiegel zurück in die Truhe und folgten ihrem Gemahl hinunter in die Küche.
    Gertrud, ihre kleine Tochter, saß auf dem Schoß der Magd und schlief zufrieden, während Selmtraud Möhren putzte. Ihr Anblick versetzte Melisande einen Stich. Sie hatte ihre Tochter nach ihrer kleinen Schwester benannt, deren Leben sie nicht hatte schützen können. Wenn Gertrud so selig schlief, erinnerte sie sie noch mehr als sonst an ihre Schwester, die ebenfalls immer und überall hatte schlafen können, selbst während des größten Unwetters. Sie war der Sonnenschein der Familie Wilhelmis gewesen. Bis Ottmar de Bruce sie abgeschlachtet hatte wie Vieh.
    Rasch trat Melisande vor. »Guten Morgen, Selmtraud.«
    »Guten Morgen, Herrin.« Selmtraud sprach, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Die Kleine hat schon gegessen. Der Herr hat sich nur einen Kanten Brot genommen und ist hinunter in den Keller gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Weil doch heute der Wein kommt.«
    »Gut.« Melisande beugte sich über ihre schlafende Tochter und küsste sie. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die Köchin mit einem Korb Eier unter dem Arm zur Hintertür hereinkam. »Guten Morgen, Walburg.«
    »Guten Morgen, Herrin.« Walburg hielt den Korb hoch. »Da kann ich einen schönen Kuchen backen, wenn übermorgen die Mutter von Herrn Wendel kommt.« Sie blickte sich um.
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