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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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»Ist denn die Berbelin noch nicht zurück? Sie sollte doch nur rasch der alten Martha etwas Brot bringen.« Sie seufzte. »Dieses Mädchen, sicherlich hat sie sich wieder am Brunnen verschwatzt. Der werde ich Beine machen, wenn sie zurückkommt.«
    »Ja, tu das, aber sei nicht zu streng mit der Kleinen. Ihre Zunge ist leider flinker als ihr Verstand.« Melisande lachte und öffnete eine Tür am anderen Ende der Küche. Hier lag die Schreibkammer, wo sie die Bücher führte und wichtige Dokumente aufbewahrte.
    »Möchtet Ihr denn nichts essen, Herrin? Ich habe frischen Haferbrei gekocht.« Walburg deutete auf den Topf, der im Kamin über der gemauerten Feuerstelle hing.
    »Später«, erwiderte Melisande. »Aber du kannst mir einen Becher warme Milch bringen, mit ein bisschen Honig.« Sie zog die Tür hinter sich zu und betrachtete den Tisch, der voller Pergamentrollen lag. Resigniert hob sie die Schultern, ließ sich nieder und entkorkte das Tintenfass. Ein Berg Arbeit erwartete sie. Der Lagerbestand musste erfasst, die Buchhaltung der letzten zwei Monate kopiert, und schließlich sollten auch die Kreditbriefe für die Frankfurter Händler gesiegelt werden.
    »Nun gut.« Melisande griff nach der ersten Rolle. Sie stutzte. Unter den Pergamenten lag Wendels Wachstafel, in die er am Vortag noch einige Berechnungen geritzt hatte. Wahrscheinlich hatte er dafür versehentlich ihre mitgenommen – die beiden Tafeln sahen sich so ähnlich wie Zwillinge und waren nur anhand einer kleinen Schnitzerei im Rahmen auseinanderzuhalten, die Melisandes Tafel als die kostbarere auszeichnete. Wendel musste die seine bereits vermissen. Sie nahm sie in die Hand, um sie Wendel in den Keller zu bringen, und stand auf.
    Mit einem Mal stand sie wieder im Folterkeller von Esslingen. Sie war der stumme Henker Melchior, hielt die Tafel einem Dieb hin, der sofort erbleichte, weil sie aufgezeichnet hatte, welche Qualen ihn erwarteten. Diese Wachstafel würde sie unter Tausenden erkennen. Sie war aus dunklem, abgegriffenem Holz gefertigt, der Griffel aus kunstvoll verziertem hellen Bein. In die Rückseite hatte sie ihre Initialen geschnitzt: »MW – Melisande Wilhelmis.« Niemand war je auf die Idee gekommen zu fragen, was die Buchstaben bedeuteten, und wenn, hätte sie als Antwort in das Wachs geritzt: »M für Melchior. Und ein umgedrehtes M. Auch für Melchior. Der Henker, der die Menschen vom Leben zum Tode bringt, der das Leben umkehrt. Alpha und Omega – Anfang und Ende.«
    Melisande ließ die Tafel sinken und kniff sich in den Arm. Das alles war Vergangenheit. Ihr neues Leben war hier: bei Wendel, ihrer Tochter Gertrud und den heiteren alltäglichen Dingen, die sie um nichts in der Welt wieder eintauschen wollte. Den stummen Henker Melchior gab es nicht mehr. Ebenso wenig wie seine Schreibtafel, die sie zusammen mit all den anderen Erinnerungen im Wald vergraben hatte.
***
    Othilia von Hohenfels, Herrin der Adlerburg, zeigte mit ihrem zierlichen Zeigefinger auf die Pastete, dann auf den Pagen, der vor ihr stand und den Blick auf seine Schuhspitzen heftete. »Hol mir den Koch her!«
    Ihre Stimme war nicht mehr als ein leises Rauschen, wie ein Luftzug, der durch die belaubte Krone einer Hainbuche fährt. Doch die Wirkung war wie ein Sturm, der Herbstlaub durch den Burghof fegt. Der Page stürzte los, fiel fast über seine langen Schuhspitzen, fing sich und polterte die Treppe hinab.
    Othilia verschränkte die Finger. »Sagt, Eberhard von Säckingen, soll ich den Koch zum Tor hinausjagen, oder soll ich ihm die versalzene Pastete so lange in den Schlund stopfen, bis er sich freiwillig entleibt?« Sie wandte den Kopf und fixierte den blonden Ritter zu ihrer Rechten mit spöttisch verzogenem Mund.
    »Ich bitte Euch, Euer Gnaden, seid barmherzig und lasst ihm nur die Zunge herausreißen. Seiner Kochkunst nach zu urteilen braucht er sie sowieso nicht mehr.«
    Das Gelächter der Ritter dröhnte durch den Saal, die Hofdamen kicherten in ihre bestickten Taschentücher. Othilia zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Diese ungehobelten Schwertträger widerten sie an, aber sie brauchte jeden einzelnen, brauchte diese tumben Toren, die ihrem Gatten die Treue geschworen hatten und sie als ihre Herrin akzeptierten, da der Burgherr spurlos verschwunden war. Nicht, dass dieses Pack Ottmar de Bruce so sehr verehrt hätte, nein! Angst hatte die Adlerburg regiert, das hatte Othilia nach ihrer Heirat rasch herausgefunden. Ottmar war gefürchtet, weil er
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