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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin
Autoren: Sabine Martin
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zurück.
    Kühle Luft schlug ihr entgegen und der Duft nach frisch gewachstem Holz. Sie kniete vor dem Altar nieder, schloss die Augen und faltete die Hände. »Herr im Himmel«, murmelte sie, »beschütze meinen Gatten Ottmar de Bruce, und lenke seine Schritte, auf dass er bald zu mir komme und mich erlöse. Und auf dass er seinen Sohn in die Arme schließen kann, der seinen Namen trägt und den er noch nie zu Gesicht bekommen hat. Und beschütze auch den kleinen Ottmar, auf dass er zu einem starken und mutigen Mann heranwachse, der seinem Vater Ehre macht. Herr, gib mir die Kraft, nicht zu fehlen. Und verzeih mir meine Sünden jetzt und immerdar. Amen.«
***
    Als Wendel die Vorbereitungen im Keller abgeschlossen hatte, war der Zug immer noch nicht angekommen. Der Tag war schon weit fortgeschritten, und die Schatten wurden immer länger. Er begrüßte Melissa, die in der Schreibkammer über einer Rechnung brütete, sah im Hof nach dem Rechten und trat dann vor die Haustür. Das Haus, das sie vor zwei Jahren in Rottweil erworben hatten, lag an der breiten Hauptstraße entlang der Ost-West-Achse der Stadt. Sie war ein wenig abschüssig, sodass Wendel von einem Stadttor zum anderen hätte blicken können, hätte die Straße nicht kurz vor dem Oberen Auentor einen Knick gemacht und hätte ihm nicht zur rechten Hand die mächtige zweistöckige Brotlaube den Blick versperrt. Das Waldtor hingegen lag nur ein paar Dutzend Schritte links von ihm. Dort würde der Zug in die Stadt einfahren.
    Ein wenig wehmütig betrachtete Wendel das Tor. Rottweil war ganz anders als seine Heimatstadt Reutlingen. Beides waren Reichsstädte, doch Rottweil war nur ein Viertel so groß wie Reutlingen, dafür erhob es sich respekteinflößend über dem Neckartal, während Reutlingen selbst im Tal lag, überschattet von der gewaltigen Burg Achalm. Er seufzte. Er vermisste seine Heimatstadt, den Blick auf die Weinberge, ja sogar den Anblick der Achalm, auch wenn die Burg, die zu Württemberg gehörte, jedem stolzen Reutlinger ein Dorn im Auge war. Energisch rief er sich zur Ordnung. Er hatte keinen Grund zur Klage. Die Bürger von Rottweil hatten ihn und seine Gemahlin nicht nur freundlich, sondern geradezu zuvorkommend empfangen. Natürlich hatte sich schnell herumgesprochen, dass Wendel sich wegen der Frau, die er geheiratet hatte, mit seinem Vater überworfen hatte. Aber die Rottweiler scherten sich nicht darum. Sicherlich hatten sie ihn auch deswegen so gut aufgenommen, weil sie sich von ihm ein gutes Geschäft versprachen. Seine Beziehungen in alle Welt pflegte Wendel nämlich nach wie vor, und manch langobardischer oder fränkischer Weinhändler verkaufte seine ausgezeichneten Weine nicht an jeden Dahergelaufenen, egal was er bezahlte. Die Angst, der Wein könne gepanscht werden und der gute Name des Händlers in Verruf geraten, war groß.
    Wendel verzog das Gesicht. Die Furcht war nicht ganz unberechtigt – auch hohe Herren, Grafen und Bischöfe schreckten nicht davor zurück, obwohl Panscherei sehr streng bestraft wurde. Die Esslinger etwa waren bekannt für ihren Ideenreichtum, was das Verlängern des Rebensaftes anging. Und Ottmar de Bruce, der Burggraf der Adlerburg, war vor zwei Jahren dafür sogar zum Tode verurteilt worden. Dass er der Vollstreckung des Urteils entkommen war, hatte der Graf allein dem Henker zu verdanken, der sein Schwert nicht in seinen Nacken, sondern in das Holz der Tribüne gerammt hatte.
    Wendel schauderte. Er kämpfte gegen die furchtbaren Erinnerungen, die ihn zu überwältigen drohten, die Angst, die ihm die Kehle zuschnürte, wenn er daran dachte, dass de Bruce noch immer lebte und eines Tages wieder auftauchen könnte. Dass er herausgefunden haben könnte, wem er die Anklage von damals zu verdanken hatte. Jetzt, wo er Frau und Kind hatte, fühlte Wendel sich verwundbarer als je zuvor. Nicht auszudenken, was der Graf mit seiner Familie anstellen würde, wenn sie in seine Hände geriet. Manchmal träumte Wendel, de Bruce sei tot. Er sah ihn auf einer Lichtung liegen, wo wilde Tiere sich um den Leichnam balgten. Die Bilder erschienen ihm jedes Mal so wirklich, dass er meinte, es müsse sich tatsächlich so abgespielt haben. Doch leider war es nur ein Traum.
    »Na, Füger? Träumt Ihr mit offenen Augen?«
    Wendel schrak zusammen. Ein Krämer, der in der Nachbarschaft wohnte, grüßte mit einem breiten Grinsen.
    »Ich bete dafür, dass der Handelszug heil die Stadt erreicht«, erwiderte Wendel eilig.
    »Recht
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