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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Giuliano Pasini
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zu schämen, die unwürdig verschwitzte Uniform.
    Wie betäubt starrt er auf den Berg roter Haare. Die schneeweiße Haut scheint das schwache Licht, das durch die Wolken sickert, zu verstärken. Das darf nicht sein, fleht er. Er spürt, wie die Mauer, die er in vier unendlichen Jahren Stein für Stein errichtet hat, ins Wanken gerät.
    Mit jedem Schritt, den die Frau näher kommt, erkennt er weitere Einzelheiten. Die Nase, die sie sich bei einem Unfall gebrochen hat. Die goldfarbenen Äderchen um die Pupille. Als sie vor ihm steht, bekommt er kein Wort heraus.
    Sie spricht ihn an: »Was soll denn dieses Gesicht? Noch nie einen Arzt gesehen?«
    Roberto braucht ein paar Sekunden, um die Bedeutung der Frage zu verstehen. »Hattest du Dienst auf der Rettungswache? Du?« Er kann es nicht glauben.
    »Eine Kollegin hat mich gefragt, ob ich ihr den Gefallen tun kann, für sie einzuspringen. Ich hatte nichts Besonderes an Silvester vor, deshalb bin ich hier. Im Grunde liegt Case Rosse ja nicht einmal fünfzig Kilometer von Bologna entfernt. Und du weißt doch, wie gern ich Auto fahre.« Sie versucht, so zu tun, als wäre es für sie vollkommen normal, hier zu sein, aber ihre Stimme zittert, und die Hand, die keine Tasche hält, flattert in der Luft herum, als verfüge sie über ein eigenes Leben.
    Unter den tausend Dingen, die ihm durch den Kopf gehen, wählt Roberto den banalsten Gedanken: »Deine Kollegin hat Glück gehabt.«
    Alice zieht eine Augenbraue hoch. Sie blickt an Roberto vorbei, der sich unbewusst zwischen sie und die Leichen geschoben hat, um sie zu schützen. »Wie hast du immer gesagt? Es gibt Abläufe, die einzuhalten sind. Also los.«
    Sie geht zügig auf die Toten und ihre Bahre aus Nebel zu, als wäre sie in Eile. Roberto folgt ihr nicht. Im Gegenteil, er geht ein paar Schritte weg. Er traut ihr nicht. Er weiß, dass er sie so wenig wie möglich ansehen darf. Er blickt auf die Wolken hinter den schwarzen Fingern der Kastanien. Versucht, sich von dem Gewicht zu trennen, das seinen Geist wie Blei an jenem Ort festhält.
    Alice kniet sich hin. Sie öffnet die Tasche, zieht die Latexhandschuhe über und untersucht lange die Leichen. Als sie den gemarterten Kopf des Mädchens anhebt, scheint sie Angst zu haben, es aufzuwecken. Etwas erregt ihre Aufmerksamkeit.
    »Komm mal her!« Sie ruft ihn, unterstreicht ihre Aufforderung mit einer entschiedenen Handbewegung. Zeigt ihm voller Erwartung einen Gegenstand.
    Ein Stück Holz, etwa fünfzehn Zentimeter lang, das an einem Ende gegabelt ist.
    »Eine Zwille. Fehlt nur noch der Fahrradschlauch, dann kann man Steine schleudern. Was stimmt denn nicht damit?« Die Frage enttäuscht sie.
    »Wenn sie die ganze Nacht hier gelegen hätte, müsste sie mit Reif überzogen sein. Die Temperatur ist auf sieben Grad minus gefallen. Das stimmt nicht damit. Und sie ist nicht erst jetzt geschnitzt worden. Sieh nur, wie abgenutzt sie ist.«
    Der kleine Stock in Form einer Miniaturwünschelrute zeigt auf die Leichen. »Auch sie haben nicht die ganze Nacht im Freien gelegen. Sie sind nicht vollständig steif. Deine Freunde von der Kriminaltechnik werden da genauer sein, aber meiner Meinung nach sind sie erst seit wenigen Stunden tot. Drei, höchstens vier. Die Zwille ist von demjenigen hergebracht worden, der dieses Gemetzel angerichtet hat. Das ist eindeutig eine Inszenierung, aber das wirst du bemerkt haben. Schließlich bist du ja der Ermittler.«
    Alice verfügt über eine dermaßen hoch entwickelte Intuition, dass Roberto ihrer Rekonstruktion Glauben schenkt. Ein Bild, das er während des Tanzes gesehen hat, kommt ihm in den Sinn. Ein Mädchen auf Knien. Der Mörder hat ihr in den Nacken geschossen. Der Körper hätte nach vorn fallen müssen. Und sie hat eine Mauer gesehen: Sie war in einem geschlossenen Raum. Jemand hat sich die Mühe gemacht, die Leichen zum Monte della Libertà zu bringen und sie ordentlich am Fuß des Denkmals und der Eiche abzulegen. Warum?
    »Hörst du mir überhaupt zu? Was hältst du davon?«
    »Ich denke, du solltest dieses Stück Holz wieder an seinen Platz zurücklegen. Ich werde mit meinen Freunden von der Kriminaltechnik, wie du sie nennst, darüber sprechen. Ich beschäftige mich nicht mehr mit Mordfällen.«
    Alices Ton wird sarkastisch: »Ah, na klar. Wahrscheinlich beschäftigst du dich jetzt damit, brandgefährliche Streitigkeiten zwischen Betrunkenen zu schlichten. Und die Welt dadurch zu retten, dass du irgendwelchen Sommerfrischlern Strafzettel
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