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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Giuliano Pasini
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immer gesagt hat.
    Manzini hört es. Er nimmt das Barett ab, zieht einen Hornkamm aus der Hosentasche und führt ihn durch sein weißes, gewelltes Haar. Die verschiedensten Gefühle blitzen in seiner Miene auf. Nervosität, Beschämung.
    »Ich bin sofort losgerannt, als Berto mich angerufen hat«, murmelt er mit gesenktem Blick. »Das ist das erste Mal, dass ich in dreißig Jahren bei der Polizei mit so was zu tun hab.«
    Für mich nicht, leider, denkt Roberto. Er zwingt sich, wie eine Maschine zu sein, kalt und effizient. Er will nur raus aus diesem Albtraum.
    »Hast du einen Arzt gerufen?«, fragt er.
    »Nützt doch nichts. Hast du nicht gesehen, wie sie zugerichtet sind?«
    »Es gibt Abläufe, die eingehalten werden müssen. Benachrichtige den Notarzt für die erste Aufnahme, dann die Questura und die Kriminaltechnik.«
    Manzini, einen Kopf größer als Roberto, klemmt sich in den Sitz seines Fiat Marea, der absurd nah an den Leichen geparkt ist. Er wird aus dem Auto heraus anrufen. Die Rettungswache und die anderen öffentlichen Einrichtungen von Case Rosse verfügen über Funk; selbst in gewöhnlichen Wintern können die Schneefälle die Telefonverbindungen wochenlang lahmlegen.

4
    A lice Capelveneri steht in Jeans und Büstenhalter vor dem Spiegel in der Umkleide der Rettungswache. Ihre Schicht als Notarzt in Case Rosse ist zu Ende.
    Sie schneidet ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Sie gefällt sich nicht. Die Haut ist zu hell, überall sind Sommersprossen verstreut. Ganz zu schweigen von der Unmenge roter Locken und der schiefen Nase.
    Sie ist aufgeregt. Ein Teil von ihr ist sich sicher: Wenn sie schon bis hierher gekommen ist, wenn sie schon diese ungeheuerliche Dummheit begangen hat, sich in dieses verlorene Örtchen schicken zu lassen, dann sollte sie es jetzt auch zu Ende bringen. Doch eine lästige innere Stimme sagt ihr, dass es keinen Sinn hat, dass es besser wäre, wieder nach Bologna zurückzufahren, eine schöne heiße Schokolade zu trinken und alle sonderbaren Ideen beiseitezuschieben. Menschen ändern sich nicht. Es gibt Wunden, die nicht verheilen.
    So bleibt sie unbeweglich stehen und sieht sich weiter im Spiegel an, um die Entscheidung noch ein wenig hinauszuzögern.
    »Signorina, entschuldigen Sie …«, sagt eine Stimme mit eindeutig sizilianischem Akzent.
    Sie fährt herum. Durch eine Tür, von der sie sicher war, dass sie sie geschlossen hatte, schaut ein alter Mann in der schreiend rot-orangefarbenen Uniform der Freiwilligen. Seine Augen, unter den dichten Brauen kaum zu sehen, sind fest auf Alices Brüste gerichtet.
    Sie bedeckt sich nicht. Im Gegenteil, sie stemmt herausfordernd die Hände in die Hüften. »Klopft man nicht eigentlich an?«
    Der Mann ist ziemlich kräftig, trotz seiner siebzig Jahre. Der kahle Schädel ist umgeben von einem Kranz weißer Haare, die so lang sind, dass sie ihm bis auf die Schultern reichen. Vielleicht wegen dieser seltsamen Haartracht, vielleicht aber auch, weil er für jede Situation das passende Sprichwort parat hat, nennt man ihn hier auch »den Philosophen«, wie sie gehört hat.
    »Entschuldigen Sie, Signorina, ich …«
    Die ganze Nacht schon haben die Freiwilligen sie so genannt. Als müssten in ihrer Vorstellung alle Ärzte aussehen wie Fosco Cherubini, der Amtsarzt von Case Rosse. Alt, unscheinbares Äußeres. Und männlich.
    »Meine Güte, nennen Sie mich Dottore, wenn’s Ihnen nichts ausmacht«, fährt sie ihn an. »Das bin ich schließlich.«
    Die Augen des Mannes werden zu dunklen Teichen. »Das beste Wort ist immer noch das, welches man nicht ausspricht, Signorina Dottoressa. Sie können mich aber gern beim Namen nennen. Ich wiederhol ihn Ihnen noch mal: Ich heiße Salvatore.«
    »Was willst du, Salvatore?«
    Er holt Luft und reißt seinen Blick los, um ahnen zu lassen, dass er mit schlechten Nachrichten gekommen ist. »Wir müssen los. Es hat eine Tragödie gegeben.«
    Innerhalb von Sekunden hat sie einen schlichten weißen Pullover übergezogen und eine Windjacke in derselben Farbe. »Komm«, fordert sie ihn auf, während sie an ihm vorbeirauscht. »Du erklärst es mir, während wir zum Rettungswagen gehen.«
    Das Schicksal hat für sie entschieden.

5
    G uerzoni hat nicht einen Augenblick aufgehört, die Baskenmütze zu misshandeln. Er hebt den Blick erst, als Roberto neben ihm steht. Es scheint im schwerzufallen, ihn direkt anzusehen. Dann gibt er plötzlich einen weiteren schrillen Laut von sich und bricht in einen unzusammenhängenden
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