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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Giuliano Pasini
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I ch weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin, auf den heißen Asphalt, auf dem ich sitze.
    Die Straße zielt direkt auf die niedrig stehende Sonne am Horizont. Das Auto meiner Eltern ist gegen den Pfeiler des Wegweisers zum Meer gekracht. Es hat keine Fenster mehr. Es hat keine Windschutzscheibe mehr. Die Türen stehen weit offen und sind voller Löcher.
    Ein Arm ragt aus der rechten Seite. An einem dünnen Faden rinnt Blut von der Hand und sammelt sich in einer Pfütze auf der weißen Linie. Er gehört meiner Mutter. Mein Vater ist gegen sie gesackt. Er ist als Erster gestorben, glaube ich.
    Bis zu einem bestimmten Augenblick erinnere ich mich an alles. Meine Mutter sagt, dass sie uns etwas Schönes kocht, wenn wir erst einmal angekommen sind, um uns für das frühe Aufstehen zu entschädigen. Mein Vater entgegnet, dass vor dem Morgengrauen aufzustehen die einzige Möglichkeit war, um so gut durchzukommen. Dann blickt er in den Rückspiegel.
    Ein Dröhnen, das lauter wird. Ein Motorrad. Mein Vater meint: »Diese beiden Verrückten bringen sich noch um, wenn sie weiter so rasen.«
    Mama schüttelt den Kopf. »Ach, jetzt hör doch auf, den Polizisten zu spielen. Wir sind im Urlaub«, sagt sie, dann dreht sie sich zu mir um und zwinkert mir zu.
    Das war das letzte Mal, dass ich Leben in ihrem Blick gesehen habe.
    Das Motorrad hat uns überholt. Schwarz wie die Jacken der beiden, die darauf saßen. Schwarz wie ihre Helme. Schwarz wie etwas, das einer der beiden – der, der hinten saß – in der Hand hielt. Ein Maschinengewehr. Er fing an zu schießen.
    Papas Kopf ist zusammen mit der Windschutzscheibe explodiert. Mama ist nach vorn gesackt. Auf mich ist alles herabgeregnet. Blut. Glas. Ich habe geschrien. Ich habe mir in die Hosen gemacht. Ich habe versucht zu verschwinden.
    Wir sind auf den Pfeiler zugerast. Die Welt ist verschwunden. Ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden. Als ich die Augen wieder aufschlug, war alles ruhig. Absurd, nach dem Lärm der Schüsse.
    Ich habe mich aufgesetzt und habe alles gesehen.
    Die Sonne fiel durch das Loch der Windschutzscheibe. Mama hatte die Augen offen. Sie verlor Blut durch ein Loch im Kopf und aus ganz vielen in der Brust. Papa konnte ich nicht mehr erkennen. Anstelle seines Gesichts war da nur noch eine formlose Masse.
    Ich habe mich nach vorn gebeugt und habe beide umarmt. Ich wollte ihre Wärme festhalten. Sie rochen ganz normal, lebendig. Auch wenn da noch andere Gerüche waren. Das Bittere kam von den Schüssen, das Süße vom Blut.
    Dann habe ich noch einen Geruch wahrgenommen, pflanzlich, krank. Als wäre ich von verrotteten Blumen umgeben. Ich kam mir vor wie auf dem Friedhof, wo meine Großeltern begraben sind. Automatisch habe ich nach den Blumen gesucht. Ich habe sie nicht gefunden, aber der Geruch ist immer stärker geworden.
    Was danach passiert ist, weiß ich nicht. Die Arme. Die Beine. Der Bauch. Das Gesicht. Überall Schmerzen. Ich habe angefangen zu zittern. Dann ist es dunkel geworden. Es war, als hätte jemand meinen Kopf leer gemacht, ihn mir weggenommen. Und an die Stelle etwas anderes gesetzt.
    Das war ich, und doch wieder nicht. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich war größer. Ich saß auf dem schwarzen Motorrad. Ich hatte die Jacke und den Helm. Ich hielt das Maschinengewehr. Ich fühlte mich stark, lebendig, erregt. Ich dachte, dass es nur gerecht sei, dieses Arschloch wegzupusten. Diese Nutte. Wenn dabei auch noch der Bastard von Sohn draufging, umso besser. Wir hatten es ihm doch gesagt: Er hätte das Schmiergeld nehmen und aufhören sollen, Ärger zu machen. Er wollte den Harten spielen? Konnte er haben. Als ich abgedrückt habe, habe ich ihm direkt ins Gesicht geschaut.
    Er war mein Vater. Ich habe ihn durch meine Augen gesehen, aber es waren nicht meine. Ich habe ihn mit meinen Händen erschossen, aber es waren nicht meine. Schrecklich, auch wenn ich mich nur bruchstückhaft daran erinnere. Ich war mittendrin, ich habe alles gesehen. Aber ich konnte nichts tun, um es zu verhindern.
    Jetzt sitze ich auf dem Asphalt, ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich bin schweißgebadet, aber ich habe nicht die Kraft, um aufzustehen. Ich bemerke den Wagen nicht, der anhält. Ich höre den Aufschrei der Frau nicht, als sie mich da sitzen sieht, voller Blut. Sie fragt mich, was passiert sei.
    Ich weiß es nicht, ich weiß nichts. Doch, ich weiß, dass ich sechzehn bin. Heute ist mein Geburtstag. Die Fahrt ans Meer war mein
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