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Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Giuliano Pasini
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Geruch der verrotteten Blumen ist überall.
    So, wie sie gekommen ist, zieht sich die Anspannung wieder zurück. Die Gesichtszüge lockern sich. Es ist wie eine Blutung des Bewusstseins. Er öffnet die Augen.
    Die Füße fangen an, einen Bogen zu beschreiben, in dessen Mitte die Leichen liegen und die Gedenktafel, eingerahmt von trockenen Zweigen. Eine langsame Bewegung, untermalt vom Knistern des gefrorenen Grases.
    Jetzt sieht er mit den Augen eines anderen Menschen. Ich bin ein Mädchen, das sich über seinen neuen Rock freut. Einen Rock mit Plisseefalten: Mama hat mir gesagt, dass sie so heißen. Ein schwieriges Wort. Der Rock ist beinahe so hübsch wie die Ringe, die ich trage. Ich strecke den Arm aus und bewundere die Armreifen unter dem Saum meines rosafarbenen Wollpullis. Sie sehen genau aus wie die von Mama, auch wenn sie weniger glänzen.
    »Hast du gesehen, wie blendend Papa aussieht?«, fragt Mama mich. Für mich sieht er aus wie immer. Nur dass er eine Fliege trägt.
    Der Rhythmus, in dem Roberto sich bewegt, wird schneller. Der Kreis zieht sich zusammen. Mit einem Schlag ändert sich alles. Die Begeisterung ist weg. Mein Horizont besteht aus einer weißen Wand. Unter meinen Knien ist kalter Boden. Irgendetwas hindert mich daran zu sprechen. Irgendetwas drückt meine Handgelenke zusammen. Mama ist neben mir. Sie weint.
    In meinem Rücken höre ich eine schreckliche Stimme, die etwas Seltsames murmelt. Ich verstehe es nicht, aber es macht mir schreckliche Angst.
    »Es keimen die Früchte des Grolls aus dem verfaulten Schoß der Erinnerung, in herber Blüte auf euren Feldern und euren Häusern …«
    Es hört sich an wie die Stimme der Toten. So vieler Toter.
    Ein Schuss. Noch einer. Zwei dumpfe Aufschläge. Zwei leblose Körper. Ich muss mich umdrehen. Hinter mir steht nur ein Mann. Er hat schreckliche Augen, ohne Pupillen. Er weint. Keine Tränen, wie Mama. Er weint Blut. Ein Gewehr zielt auf mein Gesicht. So schnell ich kann, drehe ich mich wieder zu der Mauer um.
    Roberto schreit. Er schreit aus Leibeskräften. Er schreit in die eiskalte Luft. Er schreit aus Angst und Schmerz. Er fällt zu Boden, zusammengekrümmt. Gebrochen. Dann findet er sich zu Füßen der Leichen wieder, das Denkmal und die Eiche im Rücken. Er führt die Hand ans Gesicht, als wolle er sich versichern, dass da keine Wunde anstelle der Wange ist. Verzweifelt ringt er mit offenem Mund nach Luft. Der Geruch der verrotteten Blumen ist schwach, kaum noch wahrnehmbar. Er verfliegt.
    Ich muss wieder aufstehen. Er schafft es nicht. Er bricht auf dem Gras zusammen, neben dem Mädchen. Er sieht aus wie der vierte Tote auf dieser reifüberzogenen Wiese. Er ist erschöpft, vollkommen kraftlos. Er beobachtet die schwarzen Zweige, trocken, wie sie sich vor dem weißen und schmutzigen Himmel abheben.
    Wie viel Zeit ist vergangen? Wo war ich? Wer war ich? Die letzte Frage ist am leichtesten zu beantworten. Er hat die letzten Augenblicke im Leben des Mädchens miterlebt. Jenes Mädchens, das immer noch den Plisseerock und den rosafarbenen Pullover trägt, auch im Tod. Jenes Mädchens, das nur noch ein halbes Gesicht hat.
    Wie soll man jemanden als Lumpensack ansehen, mit dem man Gedanken und Gefühle geteilt hat? Am liebsten würde er seinen Geist weit wegschicken, keinerlei Verbindung mehr herstellen. Stattdessen blitzen immer wieder ungeordnete und scharfe Bilder in seiner Erinnerung auf. Die weißen Augen. Die Tränen aus Blut. Eine tote Stimme. So ein Ungeheuer kann es nicht in Wirklichkeit geben. Die Angst muss die Wahrnehmung des Mädchens verzerrt haben.
    Ein Schauder läuft ihm den Rücken hinab. Er schafft es, sich aufzusetzen. Seine Muskeln sind steif, wie eingeschlafen. Er fühlt sich besiegt.
    Der Tanz ist zurückgekehrt.

7
    E in weißer Fiat Panda der staatlichen Gesundheitsbehörde USL erklimmt den Monte della Libertà. Er parkt neben dem Campagnola. Der Rettungswagen mit sinnloserweise eingeschaltetem Martinshorn taucht wenige Sekunden später auf.
    Aus dem Panda schlüpft eine weibliche Figur. Sie hält eine Arzttasche in der Hand und erteilt mit ausladenden Handbewegungen den beiden Männern in den orangefarbenen Hosen und roten Jacken Anweisungen, die Bahren auszuladen. Das ist mit Sicherheit nicht Dottore Cherubini.
    Ihr Gang hat etwas sehr Vertrautes. Roberto bleiben fünfzig Schritte, um das Inakzeptable zu akzeptieren. Um ein quälendes Schuldgefühl zu entwickeln, für den Tanz, um sich für die schmutzigen Hände und Knie
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