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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels
Autoren: Sabine Weigand
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älteren Geschwistern. Er war schlank und zart, ein blasses, stilles Kind, aber wen wunderte es? Zu früh hatte ihn der Leib seiner Mutter ausgestoßen, ein Glück war es, dass das arme Wurm überhaupt am Leben geblieben war. Inzwischen schien er aus dem Gröbsten heraus zu sein, auch wenn er irgendwie ein bisschen zu weich und zu ängstlich für einen Buben seines Alters wirkte. Aber gerade weil er nicht so robust und kräftig war wie seine Geschwister, liebte ihn die Mutter abgöttisch und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Er war das einzige der Kinder, das noch mit in der elterlichen Kammer schlafen durfte, weil er Angst vor der Dunkelheit und oft schlimme Träume hatte. Wenn die Sterne am Himmel standen und der Mond sein fahlweißes Licht über die Stadt hingoss, flackerte meist ein kleines Talglämpchen neben seiner Bettstatt, weil er sonst nicht einschlafen konnte. Albträume hatte er regelmäßig, aber nie war einer so schlimm gewesen. Und als er bald nach Tagesanbruch aufstand, fühlte er sich völlig zerschlagen, als sei er tatsächlich vor dem Teufel geflohen und habe dabei all seine Kräfte aufgebraucht. Aber er glaubte an die Macht des Kruzifixes und daran, dass ihn die Mutter immer beschützen würde.
     
    Zwei Monate später, es ging auf Ostern zu, wachte er in aller Frühe auf und war allein. Das schien ihm merkwürdig, denn sonst war die Mutter am Morgen immer da gewesen, hatte ihm beim Anziehen geholfen und ihm das widerspenstige Haar mit dem beinernen Lausrechen gekämmt. Er schlüpfte aus der Bettstatt, fuhr ungeschickt in Bruoche und Hemdchen und tappte über die schmale Treppe nach unten, wo der Wohnraum war. Kein Feuer. Niemand im Haus. Wo waren sie nur alle? Ängstlich lief er zur Haustür, hob den Riegel an und trat mit nackten Füßen auf die Gasse hinaus. Er fühlte sich klein und verlassen. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch bevor er anfangen konnte zu weinen, rannte schon die Nachbarin auf ihn zu, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. »Achgottachgott, o du lieber Heiland, dich haben sie wohl vergessen«, lamentierte sie. »Du armes Wurm, du.«
    Sie legte ihm ihr wollenes Tuch um die Schultern und führte ihn zu sich ins Haus. Dort blieb er den ganzen Tag, bekam warme Milch mit Honig, Gerstenbrei, Schmalzbrot und Küchlein. Die Nachbarskinder spielten mit ihm und erzählten ihm Geschichten, ja, sie schnitzten ihm sogar ein Pferdchen aus Lindenholz. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, aber den ganzen Tag über wagte er nicht, auch nur eine einzige Frage zu stellen. Ein böses Gefühl schnürte ihm den Hals zu. Als es Abend wurde, brachte ihn die Nachbarin heim.
    Schon an der Tür hörte er merkwürdige Geräusche. Drinnen in der Stube brannten die Talglämpchen, aber das Herdfeuer war aus. Wurde denn nicht zu Abend gegessen? Er trat ein und sah etwas, das seine Angst verstärkte: Der Vater saß am Tisch, den Kopf auf die Arme gelegt, und weinte. Neben ihm die Geschwister, alle kreidebleich, mit großen Augen, stumm. Er schluckte und ging auf sie zu. »Mutter«, wagte er endlich zu fragen, »wo ist die Mutter?«
    Mit einem zornigen Schrei, der eher ein Schluchzen war, fuhr der Vater hoch. Er packte den kostbaren grüngläsernen Noppenbecher, der auf dem Tisch gestanden hatte, und warf ihn mit wilder Wucht gegen die Wand, wo er zerbrach. Und er blickte ihn an, mit Augen – rollenden Augen, die einem Tier zu gehören schienen, weit aufgerissen, dass man das Weiße sah, und flackernd vor Hass und Wut. »Die hat der Teufel geholt! Der Teufel!«, brüllte der Vater mit sich überschlagender Stimme. »In der Hölle wird sie schmoren, auf immer und ewig!« Er stieß den Schemel um und packte seinen Jüngsten grob am Arm. »Die kommt nie wieder«, schluchzte er. Es schüttelte ihn, den ganzen großen Kerl. Abrupt ließ er los und stolperte wie von Furien gejagt aus dem Zimmer.
     
    Niemand in der ganzen Stadt sprach je wieder von seiner Mutter. Niemand erzählte ihm, dass sie auf und davon gegangen war, mitten in der Nacht. Auf und davon mit einem Fahrenden, einem aus der vermaledeiten Zigeunerbrut, die den Winter über vor den Toren der Stadt Quartier genommen hatte. Stehen und liegen hatte sie alles lassen, für so einen. Den Mann. Die Kinder. Haus und Hof. Alles.
    Der Vater war nie wieder wie früher, vor lauter Kummer und Schande. Er wurde wie ein Stein. Er lachte nicht mehr. Er erzählte nicht mehr. Und die älteren Geschwister taten es ihm gleich, nie wieder erwähnten sie
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