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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels
Autoren: Sabine Weigand
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die Mutter.
    So wuchs der Bub auf in dem festen Glauben, der Luzifer habe die Mutter mit sich in sein höllisches Reich genommen. Natürlich, sie hatte ja auch nicht mehr ihr Kruzifix getragen, das hing ja um seinen Hals. Seinetwegen hatte sie sich dem Teufel schutzlos ausgeliefert. »So wahr ich lebe«, hatte sie gesagt, »so wahr ich lebe, besitzt der Teufel keine Macht.« Jetzt lebte sie nicht mehr. Luzifer hatte sie bestraft. Er hatte sie statt seiner geholt.
    Die Schuld lastete unendlich schwer auf seiner Seele. Sie war zu groß, um sie tragen zu können. In seinem Körper bildete sich etwas Hartes, Festes, ein großer Knoten, der mittendrin saß und ihn mit seiner Schwere ganz ausfüllte. Er konnte nicht mehr essen, nicht schlafen, nicht fühlen. Außer dem Knoten war nichts als Leere, eine merkwürdige Dumpfheit, das Gefühl, die Zeit würde zäh fließen wie Latwerge. Und dann, irgendwann, als man fürchtete, der Bub würde noch verhungern, kam der Pfarrer ins Haus und sprach mit ihm.
     
    Später konnte er sich nicht mehr erinnern, was der Geistliche zu ihm gesagt hatte. Er wusste auch nicht, wie lange der Schwarzgewandete an seinem Bett gesessen hatte. Aber er vergaß ihn sein Leben lang nicht, diesen Augenblick, als der Knoten in seinem Inneren barst. Er zersprang in tausend Splitter, lauter scharfe, spitze Splitter des Hasses. Ja, Hass, unbändiger, wilder, tiefer, schwarzer Hass. Hass auf den Teufel, der ihm die Mutter genommen hatte. Niemals hatte er ein Gefühl mit solcher Heftigkeit empfunden, mit solch ungeheurer Wucht, die ihm fast den Atem nahm und ihm gleichzeitig eine Kraft verlieh, die mit nichts vergleichbar war. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Man musste den Luzifer vernichten. Und alle, die ihm dienten. Nie mehr sollte der Bocksfüßige jemandem Böses tun. So klein er war, er wusste genau, dass dies die Aufgabe war, für die ihn Gott ausersehen hatte. Und er schwor sich, er würde diese Aufgabe erfüllen, ihr sein Leben widmen. Allerdings musste er dafür groß werden, und stark. Und er musste lernen und sich, so gut es ging, für den großen Kampf wappnen.
    Er begann wieder zu essen. Und als die Ernte eingebracht war, die Schwalben sich für den Zug nach Süden sammelten und die Herbstnebel sich über den Wassern der Lahn drehten, da schickte der Vater Konrad zu den Mönchen.
     
    Genau zwanzig Jahre später, im Morgengrauen eines klaren Oktobertages, sahen Bauern am Himmel über der ungarischen Festung Sárospatak ein überirdisches Leuchten, hell schimmernd und hingegossen wie flüssiges Silber. Es war, als trüge die Burg einen Heiligenschein, und selbst die Tokajer Berge glänzten wie unter einem Kleid aus tausend Edelsteinen. Die Bauern fielen auf die Knie, als plötzlich vom Turm her auch noch helle Fanfaren erklangen. Bunte Fahnen wurden eilig auf den Mauern gehisst. Sie kündeten davon, dass ein königliches Kind aus dem heiligen Geschlecht der Arpaden zur Welt gekommen war: Arpádhazi Erszébet – Elisabeth.

Erstes Buch Der Schatz aus Ungarland

Burg Tenneberg bei Waltershausen, Sommer 1206
    » G ott und König Philipp!«
    Die Fußsoldaten mit den langen Leitern stürmten im Laufschritt auf die kleine Festung zu, während ein sirrender Pfeilhagel auf sie niederprasselte. Auf Kommando richteten sie die Leitern auf und lehnten sie gegen die Mauer. Droben auf den Zinnen versuchten die verzweifelten Verteidiger der Burg, die Leitern mit Stangen wegzudrücken, aber es gelang ihnen nicht. Schon kletterten die ersten Ritter mit gezogenen Schwertern hoch, aber nur um mitsamt ihrer Steighilfe doch noch nach hinten zu kippen und in die Tiefe zu stürzen. Triumphgeheul erscholl in der Burg! Aus großen Kesseln goss man heißes Öl auf die Angreifer, zischend versengte es Gesichter und Gliedmaßen. Die Ritter des Königs zogen sich in sichere Entfernung hinter einen kleinen Hügel zurück, von dem aus der König zähneknirschend den fehlgeschlagenen Sturmversuch beobachtet hatte.
    Eigentlich hatte Philipp von Schwaben gar nicht vorgehabt, die unbedeutende Tenneburg zu erobern, aber als er am helllichten Tag mit seinem Heer auf der Salzstraße unterhalb der Wehranlage vorbeigezogen war, hatte der Schmied auf der Mauerzinne seinen Kampfesmut nicht bezähmen können und einen vorwitzigen Schuss aus seiner Armbrust abgefeuert. Der Bolzen war eher zufällig – die Schussgenauigkeit einer Armbrust war erfahrungsgemäß nicht sonderlich gut – in den Sattelwulst des königlichen
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