Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
behielt er zunächst für sich und schilderte den missglückten Kriegszug und die Gefangennahme des Khans.
    Zeyna nahm die Nachrichten zunächst völlig gefasst auf, als sei sie überzeugt, dass sich noch alles zum Guten wenden werde. Als Kitzaq ihr jedoch stockend erklärte, dass ihr Sohn den Russen als Geisel ausgeliefert werden müsse, zischte sie ihn wütend an. »Nicht Ughur!«
    Kitzaq presste seine Fäuste gegen die Brust. »Sei vernünftig, Schwester! Oder willst du, dass die Russen deinen Mann und all die anderen Gefangenen erschießen?«
    »Die Russen sind verdammte Hunde, die Allah strafen wird!« Zeyna funkelte ihren Bruder herausfordernd an. »Schlagt den Kerlen, die mit dir gekommen sind, die Köpfe ab, und brecht dann auf, um Möngür und unsere Krieger zu befreien!«
    Kitzaq musste sich ein spöttisches Auflachen verkneifen. »Wie stellst du dir das vor? Möngür wurde mit all unseren Leuten nach Karasuk gebracht, in eine Festung, die von mehr als tausend Soldaten des Russenzaren verteidigt wird. Jeder Versuch, die Stadt anzugreifen, würde in einer Katastrophe für uns enden!«
    »Ich gebe Ughur nicht her!«, antwortete seine Schwester angriffslustig.
    Sie würde sich weder von ihm noch von dem Mullah des Stammes etwas befehlen lassen, das war Kitzaq klar. Also musste er versuchen, ihr den Ernst der Lage klar zu machen, in die Möngür denStamm manövriert hatte. Während er nach Argumenten rang, um seine Schwester zur Vernunft zu bringen, wanderte Zeyna mit geballten Fäusten durch den Raum. Dabei fiel ihr Blick durch das offene Fenster auf einen Reiter, der sich dem rückwärtigen Eingang des Ordu näherte. Die Khanum bedachte die Kleidung, die die Person trug, mit einem verächtlichen Blick und schürzte die Lippen. »Die Tochter der Russin will sich schon wieder interessant machen!«
    Sie wandte sich ab und wollte wohl noch etwas sagen, zuckte dann aber zusammen, trat dichter ans Fenster und blieb stocksteif stehen, bis das junge Mädchen ihr Pferd zügelte und abstieg. Dann klatschte sie mit der Faust in die offene Hand und rief ihre Sklavin herbei. »Bischla, bringe Schirin auf der Stelle zu mir, sorge aber dafür, dass keiner dieser von Allah verfluchten Russen sie zu sehen bekommt.«
    Die Dienerin nickte und verschwand, Kitzaq aber musterte seine Schwester misstrauisch. »Was hast du vor, Zeyna?«
    »Ich werde den Russen die Geisel verschaffen, die sie verdienen.«
    Kitzaq fuhr auf. »Doch nicht Schirin! Bist du wahnsinnig geworden?« Zeyna warf lachend den Kopf in den Nacken. »Ganz und gar nicht! Wie du weißt, ist gegen diese ungläubigen Hunde jede List erlaubt. Hauptsache, Möngür und unsere Leute kommen frei.«
    »Aber was ist, wenn die Russen Schirins wahres Geschlecht entdecken?«
    »Sie wird sich wohl kaum am ersten Tag nackt vor ihnen ausziehen!«, spottete seine Schwester. »Was später mit ihr geschieht, braucht uns nicht zu berühren.«
    »Es wird uns aber berühren, wenn die Russen ihren Zorn über diese Täuschung an unserem Stamm auslassen.« Kitzaq hätte seine Schwester am liebsten gepackt und so lange geschüttelt, bis diese ihren verrückten Plan aufgab.
    »Bei den Russen gibt es eine Redensart: Der Himmel ist hoch und der Zar weit. Daher bin ich sicher, dass nichts geschehen wird. Und selbst wenn, ist Möngür wieder bei uns, und er wird wissen, was zutun ist.« Zeyna streifte ihren Bruder mit einem Blick, der ihm zeigte, dass sie ihn für einen Feigling und Versager hielt. Kitzaq knirschte mit den Zähnen und wollte eben sagen, was er von ihr hielt, als die Tür der Hütte geöffnet wurde und Schirin eintrat.
    Das Mädchen trug kurze, spitz zulaufende Stiefel, weite Hosen und einen bis zu den Waden reichenden Kaftan, der ihre Figur verbarg. Mit dem festen, aber wohlgeformten Mund, der leicht gebogenen Nase und den hellen, graugrünen Augen, in denen goldene Punkte wie kleine Sterne blitzten, hätte sie durchaus als hübscher, wenn auch in Tatarenaugen etwas fremdartig wirkender Jüngling gelten können, wären da nicht die bis zu den Hüften fallenden Zöpfe gewesen, deren Farbe an Herbstblätter erinnerte. Auf der von einem Handschuh geschützten Rechten trug Schirin einen Falken und in der Linken mehrere von ihr gebeizte Rebhühner. Sie wirkte ein wenig befremdet, denn die Lieblingsfrau ihres Vaters pflegte sonst keine Kenntnis von ihr zu nehmen.
    Zeyna musterte das Mädchen, das sie um mehr als Haupteslänge überragte, mit jenem Blick, mit dem der Mullah das Schaf zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher