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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin
Autoren: Iny Lorentz
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prüfen pflegte, das zum Opferfest geschlachtet werden soll. Dann packte sie den Kaftan über der Brust des Mädchens und zog ihn stramm. »Sie ist genau die Richtige für unseren Plan! Dort, wo ein Weib weich und füllig sein sollte, ist sie so flach wie die Steppe, und ihre Größe wird die Russen zusätzlich täuschen.«
    Kitzaq stieß ein Brummen aus, das genauso gut Zustimmung wie Ablehnung bedeuten konnte; Zeyna interessiert sich jedoch nicht für seine Meinung, sondern blickte an dem Mädchen hoch. »Dein Vater, der Khan, ist von den russischen Hunden besiegt und gefangen genommen worden, und sie wollen ihn nur dann freilassen, wenn er ihnen seinen Sohn als Geisel übergibt. Ughur ist jedoch zu klein für eine Reise nach Westen, und andere Söhne gibt es nicht. Daher hat Möngür bestimmt, dass du als Jüngling verkleidet mit den Russen gehen wirst.«
    Kitzaq spürte eine widerwillige Bewunderung für seine Schwester.Da Zeyna es so hinstellte, als stamme ihr Plan von Möngür selbst, konnte Schirin sich diesem Befehl nicht verweigern. Es war gewiss kein schlechter Gedanke, sie den Russen als Geisel unterzuschieben, den sie war größer als die meisten Männer des Stammes und so schlank, dass man sie in der richtigen Kleidung leicht für einen Jüngling halten konnte.
    Während Kitzaq sich mit dem Plan seiner Schwester anzufreunden begann, versuchte Schirin, ihre wirbelnden Gedanken zu ordnen. Bisher hatte ihr Vater sich so gut wie nie für sie interessiert, aber das war ein Schicksal, das sie mit den meisten ihrer Schwestern teilte. Während die schwatzhaften Dinger sich mit ihrem Leben zufrieden gaben, hatte sie sich oft gewünscht, ein Knabe zu sein, um wenigstens einen Teil der Zuneigung zu erfahren, die Möngür Ughur und früher auch Bahadur hatte zukommen lassen. Natürlich hatte sie Angst davor, in die Gewalt der russischen Barbaren zu geraten, von denen sie Dinge gehört hatte, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, aber es erfüllte sie auch mit Stolz, ihrem Vater und dem Stamm einen wichtigen Dienst erweisen zu dürfen. Vielleicht würde man, wenn sie wieder nach Hause zurückkehrte, vergessen haben, dass sie die Tochter einer verhassten Russin war, und sie mehr achten als bisher.
    Für einen Augenblick glitten ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter, die sie im Alter von zwölf Jahren verloren hatte. Möngür hatte die nicht mehr ganz junge Frau gekauft, um von ihr Russisch zu lernen, damit die Händler ihn nicht mehr so leicht übervorteilen konnten. Irgendwann hatte er auch sie in seine Jurte geholt und dabei eine weitere Tochter gezeugt. Obwohl ihre Mutter sich bis zuletzt vor den Tataren geekelt hatte, war sie sehr liebevoll zu ihr gewesen und hatte alles getan, um eine kleine Russin aus ihr zu machen. Sie hatte ihr heimlich den russischen Namen Tatjana gegeben, ihr Lesen und Schreiben beigebracht und ihr von den wundersamen heiligen Männern und Frauen erzählt, zu denen die Menschen ihrer Heimat beteten.
    Die Geschichten von den vielen Heiligen hatte Schirin nicht so ganzverstanden, denn schließlich gab es nur Allah, der die Welt geschaffen hatte, und allein die Gebete, die ihm galten, konnten etwas bewirken, und so hatte sie sich seit dem Tod der Mutter ganz von dem Aberglauben abgewandt, den die Stammesältesten als Gräuel bezeichneten. Nun grauste es ihr bei dem Gedanken, dass man sie in der Gefangenschaft zwingen würde, zu den drei christlichen Göttern und deren nicht mehr zu zählenden Schar von angeblich wundertätigen Gefolgsleuten zu beten, denn dann würde sie vor Allahs Antlitz verflucht sein.
    Zeyna ärgerte sich über Schirins Schweigen und schüttelte sie heftig. »Hast du mich verstanden? Du wirst den Russen als Möngürs ältester Sohn ausgeliefert, um deinen Vater zu retten. Um Allahs Willen darfst du dich aber niemals als Mädchen zu erkennen geben, denn dann würden die Kosaken wie wilde Tiere über dich herfallen, dich vergewaltigen und dir anschließend die Kehle durchschneiden.«
    Die Khanum hörte sich so an, als würde sie Schirin genau dieses Schicksal vergönnen, aber ihre Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Schirin wurde klar, dass sie, solange die Russen sie festhielten, jeden Tag und jede Stunde in höchster Gefahr schweben würde. Das machte ihr Angst, und sie hätte Zeyna am liebsten gebeten, jemand anderen an ihrer Stelle zu schicken, einen jungen Mann, der sich als Möngürs Sohn ausgab. Aber die Augen der Khanum verrieten ihr, dass ihre Bitte
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