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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin
Autoren: Iny Lorentz
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begannen, über die dummen Tataren zu spotten, die sie jederzeit wie blökende Hammel zu Paaren treiben konnten. Schließlich packte einen von ihnen der Übermut, und er zog Schirins Hengst seine Reitpeitsche über die Kruppe.
    Das Tier wieherte erschrocken auf, sprang mit allen vieren in die Luft und schleuderte seine Reiterin beinahe aus dem Sattel. Schirin konnte sich nur mit Mühe auf ihrem Pferd halten und benötigte alle Kraft, um es zu bändigen. Zu allem Überfluss überschüttete der Kosak sie mit Hohn und Spott. Ohne nachzudenken griff sie zum Säbelknauf, um den unverschämten Burschen zu bestrafen.
    Zu ihrem Glück fuhr Wanja dazwischen und drohte dem Soldaten mit der Faust. »Verdammter Hund! Wenn der Geisel etwas zustößt, wird Sergej Wassiljewitsch dir die Eingeweide aus dem Leib peitschen lassen.« Die Drohung verfing, denn das Grinsen des Kosaken wich nackter Angst, und er zügelte sein Pferd, um sich erst ganz am Schluss wieder in die Gruppe einzureihen.
    Schirin löste aufatmend die Hand vom Säbelgriff. Auch wenn sie wusste, wie man mit dieser Waffe umging, wäre sie kein gleichwertiger Gegner für den kampferprobten Kosaken gewesen. Sie bemühte sich jedoch, ein möglichst hochmütiges Gesicht zu machen, und murmelte etwas, das so ähnlich klang wie: »Beim nächsten Mal schlage ich dir den Kopf ab!« Der Vorfall hatte ihr bewusst gemacht, dass sie ihr Temperament in Zukunft besser im Zaum halten musste. Es nützte ihrem Stamm wenig, wenn sie tot am Boden lag und die Russen erkannten, dass ihre angeblich so wertvolle Geisel in Wirklichkeit nur ein Mädchen war.
    Nie zuvor in ihrem Leben hatte Schirin sich so allein gelassen gefühlt wie in diesem Augenblick, auch nicht nach dem Tod ihrer Mutter. Man hatte sie nicht immer gut behandelt, jetzt aber sehnte sie sich beinahe danach, Zeynas keifende Stimme zu hören, mit der sie die Frauen und Töchter des Khans tyrannisierte. Wie schön wäre es jetzt, in einer Jurte zu sitzen und einen Ziegenbalg zu feinem Leder zu gerben. Sie hatte diese Arbeit immer gehasst, nun aber hätte sie sie jederzeit dem Gefühl vorgezogen, von den Russen wie ein Stück Vieh über das Land getrieben zu werden. Was von diesem Volk zu halten war, hatten ihr die anderen Frauen oft genug unter die Nase gerieben. Sie waren alles Ungläubige, Räuber und Mörder,und von ihrem Großkhan, der sich Zar nannte, hieß es, er ließe sich jeden Morgen einen gebratenen Menschenkopf zum Frühstück servieren und tränke das Blut der Geschlachteten dazu, aus deren Fleisch das Kebab für sein Mittagsmahl zubereitet wurde. Schirin schauderte, als sie an diese Berichte dachte, die die Händler mit ins Ordu gebracht hatten, und hoffte inständig, dass man nicht auch sie diesem Ungeheuer zum Fraß vorwerfen würde.

IV.
    Schon nach wenigen Stunden kämpfte Schirin mit einem weiteren Problem. Ihre Blase war voll, und sie wollte Wanja schon zurufen, dass er anhalten sollte. Da fiel ihr ein, dass sie sich als angeblicher Mann ja nicht ein Stück von den Russen entfernt hinsetzen und sich erleichtern konnte. Ihr Blick schweifte über die an dieser Stelle völlig ebene und deckungslose Steppe, und sie sehnte ein Gebüsch herbei, das ihr den notwendigen Schutz bieten konnte. Lange Zeit sah es jedoch so aus, als müsse sie ihren Drang bis in die Nacht hinein beherrschen, und sie verfluchte in Gedanken die sie begleitenden Russen, Zeyna und zuletzt sogar ihren Vater, weil er ihr dies angetan hatte.
    Am Nachmittag erreichten sie eine mit dürrem Buschwerk bewachsene Senke, und zu ihrer Erleichterung befahl Wanja, anzuhalten und Rast zu machen. So schnell wie diesmal war sie noch nie von einem Pferd gesprungen und sauste davon.
    »He Bursche, was soll das?«, rief einer der Dragoner und wollte hinter ihr her.
    Wanja hielt ihn lachend auf. »Lass den Knaben in Ruhe! Ohne sein Pferd haut der nicht ab.« Er selbst blieb jedoch am Rande des Gebüschs stehen und wirkte sichtlich erleichtert, als Bahadur auf der Lagerseite herauskam, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, sich davonzuschleichen.
    Auf dem weiteren Ritt ließen die Kosaken Schirin in Ruhe, und es gelang ihr, ihre körperlichen Bedürfnisse unbeobachtet zu verrichten. In den Nächten schlief sie in ihren Mantel gehüllt in der Nähe des Feuers und hielt noch im Schlaf die Hand am Säbelknauf, obwohl ihr nicht einmal eine Maus zu nahe kam. Tagsüber ritt die Gruppe durch einen besonders eintönigen Teil der Steppe, der nurgelegentlich durch
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