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Babel 17

Babel 17

Titel: Babel 17
Autoren: Samuel R. Delany
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I. Teil: RYDRA WONG
     
1.
     
    Industrieabgase durchfluteten den Abendhimmel mit rostigen, orangefarbenen, purpurnen, schwefelgelben und blaugrauen Tönen. Aufsteigende und niedergehende Transporter, die den Frachtverkehr zu stellaren Zentren und Satelliten besorgten, zerrissen die Wolken. Eine verdammt arme Stadt, dachte der General, als er in eine weitere verschmutzte Straße einbog.
    Sechs monatelange Blockadeperioden hatten diese Stadt von den Lebenslinien des interstellaren Handels abgeschnitten, auf die sie angewiesen war. Wie konnte diese Stadt existieren? In den zwanzig Jahren seit Beginn der Invasion hatte er sich die Frage schon oft gestellt, ohne eine Antwort darauf zu finden.
    Plünderungen, Aufruhr, Brandstiftungen, zwei Fälle von Kannibalismus …
    Der General blickte von den Silhouetten der Ladetürme, die jenseits der gebrechlichen Einschienenbahn aufragten, zu den schmutzigen Gebäuden. Auf den schmalen Straßen drängten sich Transportarbeiter und Schauerleute, ein paar Besatzungsmitglieder von den Schiffen, kenntlich an ihren grünen Uniformen, und viele ärmlich gekleidete, blasse Männer und Frauen, die hier wohnten und beim Zoll oder in den ansässigen Industriebetrieben arbeiteten. Sie waren jetzt ruhig, auf dem Weg nach Hause oder zur Arbeit. Aber sie alle, dachte der General, lebten seit zwanzig Jahren mit der Invasion. Während der Blockaden hatten sie gehungert, Ladenscheiben eingeschlagen, Geschäfte und Lagerhäuser geplündert, Ratten und Katzen und sogar Menschen gegessen, waren vor Tränengas und Wasserwerfern geflohen.
    Wer war dieses Tier, das Mensch heißt? Er stellte sich diese Frage, um der Erinnerung auszuweichen. Für einen General war es einfacher, an das »Tier im Menschen« zu denken, als an die Bilder, die er hier während der letzten Blockade gesehen hatte: die halbverrückte Frau, die auf dem Gehsteig gesessen hatte, ihren verhungerten Säugling in den Armen, oder die drei abgemagerten jungen Mädchen, die ihn mitten auf der Straße mit Messern angegriffen hatten (Seht euch das vollgefressene Schwein an! Komm her, Beefsteak, auf dich haben wir schon gewartet! Los, stechen wir das Schwein ab! – Er hatte sie mit Karate abgewehrt.), oder den Blinden, der schreiend durch die Tränengasschwaden gewankt war …
    Was er jetzt sah, waren blasse und zurückhaltende Männer und Frauen, die leise sprachen und immer zögerten, bevor sie eine Meinung äußerten; und wenn sie es einem Fremden gegenüber taten, dann waren es patriotische Ideen, wie Arbeit für den Sieg über die Invasoren und dergleichen.
    Seltsame Leute, dachte der General. Sie sprachen oft von der Invasion, in Phrasen, die durch zwanzigjährige Wiederholung in Nachrichtensendungen und Zeitungen geheiligt waren. Über die Blockaden sprachen sie selten, und dann nur mit dem einen Wort. Was würden sie sagen, wenn man ihnen Gelegenheit gäbe, etwas zu sagen?
    »Innerhalb weniger Jahre ist die Dichterin Rydra Wong zur Stimme dieses Zeitalters geworden«, lautete ein Satz aus einer Zeitungsbesprechung, die der General vor ein paar Tagen gelesen hatte. Ob das stimmte, konnte er nicht beurteilen, aber so komisch es klingen mochte, er, ein militärischer Führer mit einem militärischen Ziel, war im Begriff, Rydra Wong aufzusuchen.
    Die Straßenbeleuchtung ging flackernd an, und aus den Schaufenstern blickte ihn plötzlich sein Ebenbild an. Er sah eine große, massige Gestalt mit der Autorität eines halben Jahrhunderts in den Zügen, unbehaglich in einem grauen Zivilanzug.
    Wäre Rydra Wong zu ihm ins Verwaltungshauptquartier der Allianz gekommen, hätte er sich sicher gefühlt. Aber er war in Zivil, und der Treffpunkt, eine Bar, war ihm neu. Sie konnte es sich leisten, ihn zu sich kommen zu lassen. Sie war eine Art Star, schön, jung und ohne Zweifel vielseitig talentiert. Kein Wunder, daß die Massenmedien sich ihrer bemächtigt und sie zu dem gemacht hatten, was sie jetzt war. Der General, für den nur Leistungen zählten, ließ sich gewöhnlich nicht von dem Rummel beeindrucken, mit dem junge Leute gleichsam über Nacht zu berühmten Persönlichkeiten gemacht wurden; gleichwohl wußte er, daß es mit Rydra Wong mehr auf sich hatte, und er zögerte, als er den Eingang der Bar erreichte.
    Dann ging er hinein.
    Sie war noch schöner als auf den Fotos, die er gesehen hatte. Als sie ihn kommen sah, erhob sie sich von ihrem Barhocker und lächelte. Er nahm ihre Hand, und die Begrüßungsworte »Guten Abend, Miß Wong«
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