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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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passierte. Ich sah das Leuchten in deinen Augen, das aus einer Welt kam, die eine Mischung war aus Sinnlichkeit, Verletztheit, Aggression, Begehren und unendlicher Zärtlichkeit. Ich sah den Krieg, und ich sah deine Sehnsucht, zu lieben und geliebt zu werden. In welchen Spiegel sah ich da? Zwischen all den Gästen sehnte ich mich nach dir. Wir tranken Sekt und ich weinte aus einer Berührung heraus, die ich nicht mit dem Verstand erfassen konnte. Etwas fühlte, dass in dir für mich eine Antwort wartet auf eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte, die aber aus deinen Augen mich laut anschrie. Eine grundsätzliche Frage der Liebe? Eine Frage unseres menschlichen Daseins? So wie: Gibt es Gott? Ich konnte es nicht benennen. Ich war erschüttert und magnetisiert. Dann hast du mich gefragt, was Liebe ist... Ich öffnete den Mund... und schwieg.
    Ja, was ist Liebe? Wie viele Arten der Liebe hatte ich schon gelebt und erlebt. Alles habe ich Liebe genannt.
    Jetzt schreibe ich dir vom Jakobsweg, dem Weg der Sehnsucht, wie die Leute sagen.
    Warum bin ich unterwegs? Ich las vor Kurzem ein Märchen, in dem musste man den Kelch bis zum Grunde austrinken, um die Wahrheit zu erkennen...
    Lebe wohl, ich gehe jetzt los. Drei Nachtregentropfen von Paris auf dich, Leon!
     

S uch, Geliebter, dein Herz,
darin klopfe ich,
sanft wie der Tag,
der zum Lichte drängt.
Ich bin in dir verloren gegangen
mit den Winterwinden,
die meine kleinen Blüten verwehten.
 
Als an deinen Seelenfenstern
der Morgenvogel sang,
bin ich erwacht.
 
Such dein warmes Herz!
Darin warte ich
auf dich und auf mich...
Und wir werden die Zeichen erkennen.
     

Ein Zug rollt durch die Nacht
     
    Die erste kleine Herausforderung war der Liegewagen des Nachtzuges, wo ich mit fünf betrunkenen Männern schlafen sollte, was mir nicht gelang, da sie schnarchten und furzten... Der Zug rollte durch die verregnete Nacht und ich fühlte mich wie auf einem Flüchtlingstreck. Ich ahnte nicht, dass dies eine erste kleine Übung war für die Pilgerherbergen, wo manchmal bis zu 50 Leute in einem Raum schlafen. Sehr leise schlich sich ein Gefühl von Heimatlosigkeit in meine Seele, ein Gefühl, das später wiederkommen sollte... Der Zug rollte durch die Nacht, es goss wie aus Kannen. Tak...Tak...Tak...Tak...Tak...Tak. Ich hörte den Rhythmus der Räder, dann eine Melodie. Ich sang mit dem Zug, während ich auf dem Gang stand und durch die verregneten Scheiben in die Dunkelheit starrte.
    Gegen fünf Uhr schlief ich dann doch ein und hatte einen Traum:

    Meine Freundin hatte mir für die Reise eine Kette geschenkt, der Anhänger ein Engel mit großen weiten Flügeln. Ich träumte, dass ich mit meinem alten Auto, dem Renault Hundefänger, wie man ihn nennt, und drei Anhängern, gefüllt mit Gepäck, auf Schienen rückwärts fahre. Plötzlich kommt die Fuhre von den Schienen runter, es geht nicht weiter. Ich suche Hilfe, viele Leute versuchen es vergeblich... Dann kommt der Engel von meiner Halskette riesengroß angeflogen, im Arm ein Kind, das muss gewickelt und genährt werden. Ich lasse also die unglückselige Fracht stehen und gehe mit dem Engel auf eine Blumenwiese, um das Kind zu versorgen...
    Ich erwachte, weil mich jemand unsanft rüttelte. „Endstation“, rief der Mann, es war ein Deutscher, der mit mir die Nacht auf dem Gang rumgestanden hatte. Endstation bedeutete Irun in Spanien. Ich hatte verschlafen. Das fehlte mir gerade noch... Ich taumelte in den dunklen warmen Regenmorgen, die Luft war wie in den Tropen feucht und schwül, mein Kopf benebelt. Der Traum schwirrte mir im Kopf herum. Ich musste zu mir kommen. In der Bahnhofskneipe trank ich Café con leche und sah im Fernsehen, dass in den Pyrenäen Taifunregen niedergegangen waren, die verheerende Zerstörungen auf den Bergpässen angerichtet hatten. Leute mussten evakuiert werden, auf die Berge durfte keiner... Das Leben hatte es gut gemeint, indem es mich verschlafen ließ. Ich dankte meinem Engel. Der Traum mit dem vielen Gepäck, das mich rückwärts zieht. Wie wahr! Mein inneres Kind, das ich nähren soll... Ich kam zu mir! Ich hatte ein gutes Gefühl von Geführtwerden und bekam Vertrauen.
    Der Mann, der mich geweckt hatte, hieß Rudolf und wollte auch auf den Camino — so heißt der Jakobsweg in Spanien. Mit ihm zusammen fuhr ich dann nach Pamplona, einer größeren Stadt, um dort zu starten. Es regnete aus allen Eimern und Kannen, die der Himmel gefüllt hatte, um sie über der Welt auszugießen.
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