Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
Vom Netzwerk:
bleiben...
Doch wenn ich singe beim Untergang der Sonne,
legt sie sich wie ein Vögelchen in mein Herz
und fliegt mit mir in das große Klingen...
     

Die Angst ist meine ewige Schwester
     
    Die Abstände zwischen den Herbergen liegen zwischen zehn und zwanzig,
    manchmal auch dreißig Kilometern.
    Meist sind sie in Klöstern oder an Kirchen. Es gibt private und von Gemeinden geführte Herbergen. Viele sind billig oder kostenlos und laufen auf Spendenbasis. Manche sind aber auch teurer, mit ein bisschen Luxus, wo es dann garantiert heißes Wasser gibt. Heißes Wasser ist nach einer Wanderung von circa dreißig Kilometern ein Geschenk, zumal Muskeln, Sehnen, Gelenke und alle Knochen die erste Zeit einen Schock haben.
    Der Weg ist ein alter keltischer Kraftweg, mit einer Energielinie unterhalb der Erde entlang der Milchstraße. Diese Tatsache und dass uns Pilger nichts ablenkt, fuhrt sofort ins eigene Herz, mit allem, was dort zu finden ist.
    Am dritten Tag des Gehens bekam ich nachts einen ersten panikartigen Anfall. Ich schlief in einem Kloster, wo es kalt war und unheimlich, weil das Gemäuer den Mief von Jahrhunderten atmete. Ich konnte nicht schlafen. Neben und unter mir schnarchten die Pilger. Beim Ankommen hatte ich einige begrüßt, dann aber vorgezogen, mich schweigend zurückzuziehen. Mir war nicht gut. Mein Körper hatte Schmerzen: Schultern, Rücken, Hüften, Füße...
    Hier gab es nur kaltes Wasser. Davor hatte es mir so sehr gegraut, dass ich das Waschen ganz gelassen hatte. Ich lag salzig schmeckend oben in einem Doppelstockbett und stierte an die Decke. Angst überkam mich. Ich hatte das Gefühl, alles zu verlieren, was mir mal wichtig war, alles das, was ich jetzt verließ, um diesen Weg zu gehen, den Weg der Sehnsucht. Ich fühlte unendliche Einsamkeit und die Tatsache, dass ich austauschbar war. Vergessen und nicht mehr gebraucht zu werden, weil ich mich freiwillig von allen Verbindungen abschnitt für unbestimmte Zeit das erschien mir plötzlich tödlich. Ich nahm wahr, dass meine Arbeit mit Menschen, meine Familie, Freunde, Beziehungen und meine Partnerschaft so etwas wie eine Identität für mich waren. Wer war ich ohne diese Identität?
    Sollte ich umkehren, einfach zurückgehen in die alte Vertrautheit und Sicherheit?
    Noch war alles möglich.

    Um mich herum Fremde, circa fünfzig Pilger. Kein vertrauter Mensch. Ich hatte Sehnsucht nach Intimität. Immer diese Fremdheit in allen Betten um mich herum... Ich weinte die ganze Nacht und fror erbärmlich, während der eisige Klosterwind ein Fenster ständig auf und zu schlug und in der Ferne eine Nachteule rief. Nur nicht noch krank werden!
    Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten nach Hause gefahren, aber etwas trieb mich vorwärts... Es war gegen sechs Uhr und noch dunkel. Der Mond stand halb voll am noch dunklen Morgenhimmel, die Sterne und die Milchstraße breiteten sich aus wie ein Teppich und die frische Luft gab mir Kraft. Diese Schönheit ergriff mich, sie füllte meine Heimwehseele mit Hoffnung und gab meinem Körper Frische und Lebendigkeit. Die anderen Pilger schliefen noch. Es war ja noch dunkel. Um acht Uhr mussten auch sie auf der Straße stehen, denn das ist Gesetz: Man darf nur eine Nacht bleiben. Ich lief also weiter, und nach einigen Kilometern waren alle Gefühle der Verzweiflung mitsamt der Angst verschwunden. Ich fühlte mich plötzlich frei und glücklich.
    An diesem Morgen spürte ich alle meine Knochen und Muskeln, der ganze Körper schmerzte. Mir war klar, dass ich mich mit ihm beschäftigen musste, weil er im Moment neben dem Inhalt des Rucksacks mein einziger Besitz war und dafür verantwortlich, wie ich den Weg meistern würde. Ohne die Gesundheit und Leistungsfähigkeit dieses Gefährten kein Weitergehen...
    Und da gab es besonders die Füße... Die Füße wurden meine besten Freunde. Sie halten mich und den Kontakt zur Erde auf einer ziemlich kleinen Fläche, auf die ein großes Gewicht drückt. Noch nie hatte ich meine Füße so deutlich wahrgenommen, gefühlt, gestreichelt, massiert, mit ihnen geredet. Mir war klar, dass der Camino nichts intensiver verlangte als die Beschäftigung mit mir selbst.
    Mir die volle Aufmerksamkeit zu schenken, war einerseits eine Herausforderung, die mich ängstigte, andererseits Freude und Genuss, aber es war auch das Schwerste, weil am wenigsten Gewohnte. Und das blieb es bis zum Schluss.
    Zum ersten Mal redete ich mit meinen Füßen, mit dem Rücken, der keine Lust mehr hatte, das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher