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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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in dem Ganzen, will die Gesetze erfühlen in mir. Mein weiblicher Körper mit seinen Zyklen ist direkt verbunden mit den Naturzyklen, mit dem Wechseln des Mondes zum Beispiel. Hier auf dem Weg sehe ich ihn jeden Tag in seiner Veränderung, und auch ich bin jeden Tag anders. Trotzdem weiß ich, dass die Zeit der Naturreligionen vorbei ist. Wir werden nie wieder wie die Indianer leben. Es muss eine neue Verbindung geben zwischen Natur und modernem Menschen.

    Ist es das, was die Mayas meinten mit der neuen Erde, dem Erwachen eines neuen Bewusstseins? Ja, ich suche neue Wege, suche lebendiges instinktives Bewusstsein, das diese Erde als einen großen Organismus verstehen lernt, mit dem wir atmen und fühlen und in den wir uns einfügen. Ich sehnte mich nach dieser Einheit so sehr, dass es mir wehtat. Ja, mein Herz schmerzte, während ich ging und ging und ging. Und ich fühlte eine Wunde direkt an meinem Herzen, doch konnte ich sie noch nicht benennen.
    Während ich lief und lief und die Gedanken kamen und gingen, beschloss ich, mich wirklich zu öffnen für eine neue freie Spiritualität und alten Religionsmüll über Bord zu werfen. Auf dem Jakobsweg habe ich den männlichen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist ein für alle Mal abgeschafft. Diese Worte sind für mich missbraucht und besetzt mit Dogmen, Macht und Kriegen für den rechten Glauben. Dazu das unbefleckte Frauenbild — eine fatale Auslegung der Frau und ihrer Sexualität. Welche Wunden, welche Schmerzen sind seit damals in uns Frauen eingebrannt und in unseren Liebespartnern! Wie viel menschliches Leid hat ein solches Reinheitsgebot in der Menschheit und in unseren gesunden Instinkten ausgelöst! Maria war eine Frau, die nichts von einem Mann wusste, und doch bekam sie ein Kind. Wie sollen wir Frauen dieses Ideal leben!!!
    Ich spürte einen unbändigen Zorn aufsteigen, Schritt... Schritt... Wieso kamen jetzt alle diese Gedanken auf und suchten nach Antwort? Meine Füße schmerzten, die Knie ebenso, dazu spürte ich den Rucksack auf den Schultern, als hätte ich Zentner zu schleppen. Hatte ich die Gefühle der Menschen in mir, die seit Hunderten von Jahren den Jakobsweg pilgern?
    Was sollen wir armen Menschen machen mit unserer wilden Lust auf Natürlichkeit und Sex? Religionen, die Sex als Sünde bezeichnen, trennen den Menschen von seiner Natur, denn dies ist die Schöpferkraft in uns. Sind wir nicht seit Jahrhunderten emotional unterernährt?
    Ich fragte mich, was wohl der Selbstmord meines Vaters mit diesen Themen zu tun hat.
    Ich war zornig, einfach zornig und spürte, dass ich gerade Menschheitsthemen aus meiner Seele ausgrub. War das ein Teil des Gepäcks aus meinem Traum im Nachtzug von Paris? Ich redete mit meinem toten Vater und fühlte, dass er nicht gescheitert war, dass er sich nur einen anderen Ausdruck seines Lebens gewählt hatte. Es gehören Mut und Kraft dazu, seinem Leben ein Ende zu setzen. So wie zum Weiterleben Mut und Kraft gehören. Eine Entscheidung ist eine Entscheidung!
    Ein Wunder geschah: Ich fühlte Achtung, Würdigung und Liebe für ihn — und für mich, für den Teil, der mein Vater in mir war, für meinen sogenannten inneren Versager. Ja, ich fühlte! Ich empfand seine Seelenverletzung, die nicht heilen konnte, weil es nicht die Zeit war, in der man sich um seelische Heilung kümmerte. Mit siebzehn Jahren zog er in den Krieg als Held für die Nazis, mit dreiunddreißig saß er im DDR-Knast, weil er sein Maul zu weit aufgerissen hatte. Dann hat er nur noch geschwiegen, später getrunken.
    Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn hängen an der Kette des Sackaufzuges auf dem Dachboden unseres Hauses. Mein kleiner Bruder hatte ihn gefunden. Er fand seinen Vater in dessen größter Einsamkeit, denn diesen Weg hatte er für sich allein entschieden. Niemand hat Abschied genommen, und er hat sich auch nicht verabschiedet.
    Er hat uns im Tod seine Wunde gezeigt — schonungslos. Im Leben konnte er sie uns nicht zeigen.
    Heute hier auf dem Camino weinte ich, weinte und weinte um ihn, meinen Vater. Ich weinte meine „Nichtliebe“, aus Scham und Verletzung geboren, auf die trockene Erde Spaniens. Waren nicht die Wunden meines Vaters auch meine Wunden? Bedeutete nicht, den Kelch bis zum Grunde auszutrinken, Schmerz und Verzweiflung zu fühlen, jene Seite des Lebens, die ich, die wir alle so gerne verdrängen?
    Ich dachte an Johannes, meinen geliebten Lebenskameraden. Kannte ich seine Wunden? Nein, nein, nein! Das war es,
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