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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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war...
     

Lieber Leon,
    es ist Morgen. Draußen Dunkelheit. Die Möwen schreien. Ich gehe jetzt, um meine Schuhe dem Meer zu schenken. Meine geliebten Wanderschuhe. Es fällt mir sehr, sehr schwer, doch ich will ein Opfer bringen. Ich will dem Meer danken. Es hat mich gerufen, während ich den Weg ging...
    Es hat mich gelockt, vor allem in den Nächten...So habe ich durchgehalten.
    Es ist Ebbe. Ich laufe barfuß, mit den Schuhen in der Hand, hinaus aufs Wattenmeer. Ich höre das Gurgeln der Wellen... Dann schenke ich die Schuhe dem Meer, danke ihm und küsse seinen Grund. Am Strand warte ich, bis die Flut zurückkehrt. Langsam, sehr langsam nimmt das Meer mein Geschenk an. Ich schluchze unaufhörlich. Meine Reise ist beendet. Leon, wo bist du? Ich sehe dich heute nicht... Du schläfst noch, nicht wahr, du schläfst doch noch...?
    Leon, gehe noch nicht ganz weg, ich meine — mit IHM. Ich will dich noch einmal lieben... Und ich würde so gern bei dir sein, wenn ER kommt.
     

Die Rückkehr
     
    Am Freitag, dem 14. Oktober, fuhr ich mit dem Morgenbus nach Santiago de Compostela. Von dort startete ein Bus nach Nürnberg. Über dreißig Stunden dauerte die Reise. Genau richtig für mich, mit Langsamkeit zurückzufahren.
    Die Gedanken an Johannes und mich schmerzten, ich wollte sie nicht berühren. Doch jetzt ließ ich es wehtun.
    Oh ja, ich will mich lieben lassen, mich zeigen mit allem, was und wie ich bin!
    Wird er sich auch lieben lassen von mir mit all seinen Unzulänglichkeiten? Ich würde es so gern wollen...Was hätten wir da alles zu entdecken?
    Der Bus fuhr durch alle Gebiete, durch die der Camino führt. Es war Herbst geworden. Ich war im Sommer gelaufen, und es bewegte mich zutiefst, die bekannten Namen der Orte noch einmal zu lesen und Erinnerungen zu leben. Ich saß mit meinem Tagebuch und ließ mich erinnern.
    In Santiago stieg eine junge Frau ein Aiya, vierzig Jahre alt, Halbtürkin, verheiratet, vier Kinder. Sie verabschiedete sich von einem Mann mit schönem Gesicht und blonden Locken. Er war ihr Geliebter, mit ihm war sie den Jakobsweg gegangen. Sie wollte sich entscheiden, doch jetzt wusste sie, dass sie beide Männer liebt. Sie wollte weiterhin mit ihrem Mann und den vier Kindern Zusammenleben — doch auch mit dem Geliebten, der ca. dreihundert Kilometer entfernt von ihrem Wohnort mit seinem behinderten Kind wohnte. Sie war sehr aufgeregt, weil ihr Mann sie in Frankfurt abholen würde und sie ihm das erzählen musste. Sie war eine außergewöhnliche Frau, mit viel Lebenskraft und innerer wie äußerer Schönheit. Wir mochten uns sofort und erzählten einander alles... Gleichzeitig ließen wir uns in Ruhe, weil wir beide den Weg noch einmal in Gedanken nachvollziehen wollten.
    Sie liebte also auch zwei Männer. Wenn das menschliche Herz etwas Göttliches hat, dann kann es viele Menschen gleichzeitig lieben. Sie erzählte mir, dass ihr Mann ihr Lebenspartner ist auf allen Gebieten, nur ihren Körper nicht erfassen kann, während ihr Liebster der ideale Liebespartner ist.
     

Leon,
    ich fahre zurück. Ich sitze im Bus und sehe, wie die Landschaften, die ich im Sommer durchwanderte, herbstlich an mir vorüberziehen. Du hast mich den ganzen Weg über begleitet...
    Wie geht es weiter? Was wird aus Leon und Leda, der Schwanenprinzessin, wie du mich zärtlich getauft hast?
    Atme, ich will dich atmen hören.
    Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie wir Liebe machen: Kerzenscheinzimmer... Düfte... Musik — Klaviermusik... Du sagst: Ich habe Angst. Ich sage: Ja, ich weiß, ich liebe dich. Alter Mann. Ich habe auch Angst.
    Du liegst vor mir, nackt unter einem Tuch. Die Konturen deines Körpers verschwimmen im Kerzenschein. Ich sitze neben dir, ebenfalls nackt. Zwischen uns ein weiter fließender Raum... Sieh mir in die Augen, sage ich... Sieh mir nur in die Augen...
    Wir sehen uns an. Ich fühle, wie mir heiß wird unter deinem Blick. Wir tun nichts, halten es aus, uns anzusehen. Deine Augen wandern über meinen nackten Leib. Ich stöhne... Die Musik fließt durch unsere Körper, die Düfte legen sich über die Haut wie ein sanftes Tuch, sie machen uns benommen... Deine Augen begehren, du willst es wissen... Du atmest schneller, ich schluchze...Ich sehe dein Leben in deinen Augen, alle Freude, alles Leid, jede Verletzung und jede Lust... schonungslos ehrlich erkenne ich dich.
    Die Welle der Wollust durchströmt meinen Körper und öffnet mir den Schoß. Die Luft zwischen uns brennt...
    Ich tauche meine
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