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Die Tänzerin auf den Straßen

Die Tänzerin auf den Straßen

Titel: Die Tänzerin auf den Straßen
Autoren: Miriam Gudrun Sieber
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Beim Suchen der Pilgerzentrale, wo man den Pilgerpass erhält, wurden wir bis auf die Haut durchnässt und alle Klamotten im Rucksack ebenso.
    Der Start war also, eine Nacht in Pamplona zu schlafen, in einer billigen Herberge Klamotten zu trocknen und zu warten, dass der Regen aufhört. Dem Rudolf hatten sie die Hosen und Hemden von der Leine geklaut, er war todunglücklich am Morgen und wollte, dass ich mit ihm Sachen kaufen gehe. Ich will dazu sagen, dass er mich an meinen Spielkameraden aus frühester Kindheit erinnerte, den ich immer verteidigt hatte vor den anderen, und für den ich Schularbeiten gemacht und Aufsätze geschrieben hatte...
    Überhaupt war es ein Phänomen, dass mein Leben wie ein zweites Mal aufgeblättert wurde durch die Menschen, denen ich begegnete. Immer wieder kamen Lebenserinnerungen durch Pilger auf mich zu.
    Jedenfalls mutete ich Rudolf zu, seine „Schulaufgaben“ selbst zu machen und die Klamotten alleine zu kaufen, und lief los. Es regnete nur noch leicht. Die erste Aufgabe: Den Camino finden und seine Zeichen und Muscheln. Der gelbe Pfeil weist den Weg, manchmal auch die Jakobsmuschel, beides oft schwer zu sehen, vor allem in Städten. Nie hätte ich geglaubt, dass ich den gelben Pfeil so lieben und nach manchmal ewiger Suche sogar küssen würde vor Glück. Die Zeichen nicht sehen bedeutet sich verlaufen, Umwege, Sackgassen, die nächste Pilgerherberge nicht finden oder noch einige Kilometer mehr laufen müssen, bis man endlich ein Bett hat.
    Pamplona, die Stadt der Stierkämpfe, ein unendlich langer Weg, um rauszukommen, inmitten von Autolärm, Abgasen, Beton. Viele Pilger starteten dort, alleine so wie ich, als Paare oder in Gruppen. Der Gruß „Buen Camino“ oder „Hola“ international.
    Ich. war eine Fremde auf dem Weg, noch unerfahren tastete ich mich voran.
    Unsicher mit der Sprache und den Gepflogenheiten des Landes, ging ich einfach in die Richtung, die mir von den Zeichen vorgegeben war. Ich musste mich anvertrauen lernen, den Menschen, den äußeren Zeichen und meiner Intuition.
     

W ir gehen unter
im Lärm der großen Stadt.
Ich höre dein Atmen nicht mehr
und keins deiner Worte
findet mein Ohr,
sie rollen in Autos
und auf Zügen davon
und auf eingefahrenen Gleisen,
die sich nirgendwo treffen,
auch nicht am Horizont.
     

Leon, Geliebter!
    Ich bin in meiner ersten Herberge, in Pamplona. Soeben erlosch die Laterne vorm Haus, es regnet unaufhörlich. Die Uhr tickt. Ich falle in die Minuten und in meine Einsamkeit. Was ist Zeit? Ich habe unendlich viel Zeit, auf einmal. Vorhin habe ich in einer Bar gesessen, vino tinto getrunken und die spanischen Menschen beobachtet, die ewig an einem Glas Wein trinken und reden oder sitzen... Wie viel Zeit haben wir wirklich? Sind Lebensjahre Zeit? Wie viel Zeit müssen wir uns nehmen, um zu lauschen, zwischen den Tönen und Worten verstehen zu lernen. Ich bin froh, dass du mich an das Zeitüberschreitende der Liebe erinnerst, du alter Mann! Uns bleiben nur Berührungen, Augenblicke. Wenn ich dir lausche, höre ich mein Herz antworten. Wir liegen nebeneinander und schweigen. Kein Wort zwischen uns, und doch sind es viele Worte. In diesen Augenblicken fühle ich deinen im Krieg verlorenen Arm. Ja, ich fühle ihn. Du hast mir erzählt, dass deine Finger an dem nichtvorhandenen Arm schmerzen. Ich kenne diese Geschichten aus meiner Krankenschwesternzeit von anderen Amputierten.
    Als wir beide das erste Mal still nebeneinanderlagen, habe ich deinen Arm wahrgenommen, deinen fehlenden, habe alle Finger gespürt, wie sie zart über meinen Leib glitten. Es war so starke Energie, dass die Grenzen meines Körpers nicht mehr spürbar waren für mich. Und alles an mir wurde zu einer einzigen Erregung und nahm mein ganzes Wesen ein... Du hast nichts getan. Wir haben ES klingen lassen...
    Gute Nacht!
     

Z eit liegt hinter der Zeit.
Sie ist nicht wirklich.
Sie öffnet sich wie eine Muschel
und zeigt sich in ihrem Perlmuttglanz
morgens mit einem tiefen Einatmen...
Viele Tage, nachdem die Rosen geblüht,
legt sie sich an unser Fenster und hört zu,
ohne eine Frage zu stellen.
 
Keiner versteht so intensiv zu lauschen
wie der Augenblick hinter der Erscheinung.
Niemand vermag so lange zu warten
wie die Erscheinung hinter den Dingen.
Bis wir eines Tages begreifen,
dass die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt wie Wasser,
das wir mit bloßen Händen aus dem Brunnen tragen.
 
Die Zeit liegt hinter der Zeit
und lässt sich nicht verführen zu
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