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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs
Autoren: Alan Furst
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Raisuli lag angeblich direkt hinter dem Bab el-Marsa, dem Hafentor, das er in der Ferne entdeckte. Ein Mann namens Hoek hatte ihn zum Essen eingeladen – herzitiert, traf die Sache wohl am besten. Abgesehen davon, dass dergleichen so gut wie nie passierte, war es eigentlich eine ganz normale Bitte, und so ging man besser hin. Warf sich in die Ausgehuniform – einen marineblauen, zweireihigen Blazer zu einem zart grauen Hemd und dunkler Wollhose, die blaue Krawatte mit einem silbernen Spaniel – und machte sich auf den Weg.
    Zielstrebig lief er den Kai entlang und dankte seinen Sternen, als er an einem norwegischen Tanker vorbeikam, der am Pier vor Anker lag, und ihm der markante Geruch von Flugbenzin in die Nase stieg. Das war die letzte Art, wie er sterben wollte. De Haan war groß – wirkte groß, und sehr schlank, mit kräftigen Armen und Schultern. Ebenmäßige Züge: ein Nordsee-Gesicht, graue Augen, manchmal kalt, manchmal warm, mit einem feinen Geäst von Seemannsrunzeln an den Winkeln, widerspenstiges blondes, fast braunes Haar, in dem bei Sonne die ersten Silberfäden glänzten – er war gerade einundvierzig geworden. Es lag ein gewisser Stolz in diesem Gesicht, auf den Beruf vielleicht, weniger auf die Stellung – konnte sich sehen lassen, besser als nichts. Schmale Lippen, ein Anflug von einem Lächeln, ein charakteristisch holländischer Mund, der diese Welt entschieden exzentrischer, man konnte schon sagen, amüsanter fand als seine deutschen Gegenstücke weiter im Osten. Er hatte große Hände, bei den Frauen beliebt, wie ihm bescheinigt worden war. Zu De Haans Verwunderung, doch durchaus willkommen.
    Hätte er seine Uniform tragen sollen? Bei der Hyperion-Lijn gab es so ein Ding, schlicht blau, für die Kapitäne, die traditionellerweise zum ersten Tag einer Seefahrt hervorgekramt und dann nie wieder gesehen ward. Doch De Haan konnte sie nicht leiden. Für ihn war das keine richtige Uniform, und eine richtige Uniform brauchte er jetzt. Als die siegreichen Deutschen im Mai 1940 die Aktenschränke der Königlich Holländischen Marine im Verwaltungsgebäude in Den Haag geplündert hatten, war ihnen zweifellos auch der Antrag aus dem Jahr 1938 von einem gewissen De Haan, Eric Mathias, in die Hände gefallen und für ihre Zwecke zu den eigenen Akten genommen worden, ein Antrag, in dem besagtes Mitglied der Marine geradezu flehentlich um die Ernennung zum Offizier und um den Dienst auf einem Zerstörer oder einem Torpedoboot oder sonst was bittet, Hauptsache, es konnte schießen.
    Er kam am Bahnhof vorbei und betrat mit den engen Gassen hinter dem Bab el-Marsa-Tor eine andere Welt. Der Maghreb duftete. Stärker, als er in Erinnerung hatte; fünfundzwanzig Jahre auf See, dachte er, und zu viele Häfen. Frische Orangenschalen auf dem Pflasterstein, der Geruch von Holzkohlenfeuer und – gegrillter Leber? Musste es eigentlich sein, nichts anderes roch so. Uralte Kanalisation, Kreuzkümmel, Räucherwerk. Und Haschisch, unverwechselbar. Ein Duft, den es ab und zu auf der Noordendam gab, den man aber meist ignorierte, solange die Männer nicht auf Wache waren. Er konnte sich selbst von solchen Dingen nicht ganz freisprechen, das Zeug war, wie Arlette sich auszudrücken beliebte, eine von ihren schmutzigen kleinen Freuden gewesen. Sie hatten es eines Nachts in ihrem Zimmer in der Rue Lamartine geraucht, indem sie winzige Stückchen an einem brennenden Zigarettenende in einem Aschbecher balanciert und den Rauch durch einen eng gerollten Hundertdrachmenschein aus seiner Hosentasche eingesogen hatten. Danach hatten sie sich wild und ziemlich chaotisch geliebt – Ja, so! Nein, lieber so! Oder doch besser so? –, woraufhin er für zehn Stunden wie ein Stein geschlafen und Arlette nach dem Aufstehen einen riesengroßen holländischen Pfannkuchen in zerlassener Butter zubereitet hatte.
    Die Rue Raisuli, arabische Musik aus einem Dutzend Radios und zwei Männer von der spanischen Guardia in ihren napoleonischen Ledermützen, die, so wie sie dort entlangstolzierten, keinen Zweifel daran ließen, dass ihnen die Straße gehörte. Was, offiziell, auch der Wahrheit entsprach. Tanger war seit 1906 eine internationale Zone, ein Freihafen, der mit Währungen, Knaben und Spionage handelte. Jetzt, nachdem sich das spanische Marokko die Stadt einverleibt hatte, stand sie unter spanischer Kontrolle; Casablanca war somit französisch und wurde von Vichy aus regiert, Tanger dagegen spanisch und neutral und unterstand
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