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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs
Autoren: Alan Furst
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Madrid. Doch De Haan wusste so gut wie jeder andere: Ähnlich Paris war dies eine Stadt, die ganz entschieden ihren Bewohnern gehörte. Und wie, dachte De Haan, passte Mijnheer Hoek in dieses Bild? War er Händler? Emigrant? Dekadenter Lebemann? Alles drei? Nummer 18 in der Rue Raisuli erwies sich als ein Restaurant namens Al Mounia, wenn auch nicht die Art Restaurant, in das wichtige Leute jemanden zum privaten Dinner einluden.
    De Haan teilte den Perlenvorhang, trat ein und blieb einen Moment lang etwas verloren stehen. Das kann es doch nicht sein, dachte er. Fliesenboden, nackte Holztische, nur wenige Gäste, von denen mehr als einer beim Essen die Zeitung las. In diesem Moment kam ein Mann, in dem er den Eigentümer vermutete, herbeigerauscht, und De Haan sagte, »Monsieur Hoek?«, womit er offenbar das Zauberwort getroffen hatte. Der Mann klatschte zweimal in die Hände, und ein Kellner führte De Haan durch das Restaurant und zur Hintertür hinaus, auf einen Innenhof, der vom lautstarken Leben in den Mietshäusern ringsum widerhallte. Sechs Stockwerke hoch weiße Wäsche an quer über den Himmel gespannten Leinen, sechs Stockwerke hoch Familien, die bei geöffnetem Fenster zu Abend aßen. Von dort aus wurde De Haan durch einen klammen Tunnel in einen zweiten, einen unbeleuchteten, stillen Hof und weiter eine Gasse entlang bis vor eine schwere, mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tür geführt. Der Kellner klopfte an und zog sich zurück, als von drinnen eine Stimme rief: » Entrez. «
    De Haan betrat einen kleinen, quadratischen, fensterlosen Raum, der, abgesehen von der Decke mit einem gemalten Nachthimmel – blauer Hintergrund, goldene Punkte als Sterne, eine silberne Mondsichel am Horizont –, gänzlich mit Stoff ausgekleidet war. Teppiche an Wänden wie Böden; das Mobiliar eine Runde Sitzkissen und ein niedriger Tisch mit einem Messingtablett, das den größten Teil seiner Oberfläche einnahm. Als De Haan eintrat, streckte ihm ein Mann in einem Rollstuhl, der abgesehen von den Gummireifen an den Speichenrädern gänzlich aus Holz gefertigt war, die Hand entgegen und sagte, »Willkommen, Kapitän De Haan, danke, dass Sie gekommen sind, ich bin Marius Hoek.« Hoek hatte einen kräftigen Händedruck. Ein Mann in den Fünfzigern, bleich wie ein Gespenst, das blonde Haar kurz geschoren und eine Brille mit dunklen Gläsern, die das Licht einer Lampe in der Ecke einfingen, als er zu De Haan aufsah.
    Die anderen Gäste erhoben sich von ihren Kissen, um ihn zu begrüßen: eine Frau in Chalk-Stripe-Kostüm und dunkler Bluse, ein Mann in der Uniform eines holländischen Marineoffiziers und Wim Terhoven, dem die Hyperion-Lijn gehörte – sein Arbeitgeber. De Haan wandte sich, wie mit der Bitte um eine Erklärung, an den schmunzelnden Terhoven, den es herzlich zu amüsieren schien, Kapitän De Haan, sonst bekanntermaßen schwer aus der Fassung zu bringen, einmal unverhohlen ratlos zu sehen. »Hallo, Eric«, sagte Terhoven und ergriff De Haans Hand. »Leute wie mich werden Sie so schnell nicht los, wie?« Er klopfte De Haan auf die Schulter. Kein Grund zur Sorge, mein Junge, und sagte: »Darf ich Sie mit Frouw, ehm, Wilhelm bekannt machen?«
    De Haan schüttelte ihr höflich die Hand. »Sagen Sie einfach Wilhelm«, bot sie an. »Alle nennen mich so.« Sie trug kein Make-up, hatte feine, zarte Züge und war schätzungsweise um die fünfunddreißig, mit kräftigem, honiggoldenem Haar, das sie sehr kurz geschnitten mit Seitenscheitel trug. »Und das«, sagte Terhoven, »ist Kommandant Hendryk Leiden.«
    Leiden war breit und massig, mit fortgeschrittener Stirnglatze, violettroter Trinkernase, Vollbart und der wettergegerbten Haut eines Matrosen. »Nett, Sie kennen zu lernen, Herr Kaptän«, sagte er.
    »Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns«, sagte Terhoven. »Haben Sie den Spaziergang genossen?«
    De Haan nickte. »Gehört das hier noch zu dem Restaurant?«
    »Wer sagt denn, dass das Hinterstübchen immer die Treppe hoch sein muss?« Er lachte. »Und auf dem Weg eine kleine Kostprobe des echten Tanger, wo hinter jeder Tür ein Mörder lauert.«
    »Nun ja, das, oder Kuskus.«
    Wilhelm gefiel der Witz. »Es ist gut, das Al Mounia, beliebt bei den Einheimischen.«
    De Haan ließ sich auf einem Sitzkissen nieder, während Terhoven ihm aus einem altmodischen Tonkrug ein Glas Gin eingoss. »Ein Klassiker«, sagte er.
    »So was gibt es in Tanger zu kaufen?«
    Terhoven schnaubte verächtlich. Er hatte einen wilden Bart und
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