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Die Stunde Der Toechter

Titel: Die Stunde Der Toechter
Autoren: Michael Herzig
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großen gelben Kugeln. Nachts sah es aus, als schienen zwei Monde über dem Hafen. Im Innern des Restaurants dominierten tagsüber Kindergeschrei, abends Tabakrauch und trunkenes Gelächter.
    Bernhard Stämpflis Witwe stand hinter der Theke und strahlte in ihr Reich. Mit großem Herz und großzügigem Dekolleté. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Johanna. Aber um ein Vielfaches reicher an Männern und Kindern. Ein Schatz, um den Johanna sie beneidete.
    Um einiges mehr als um das jahrtausendealte Relief an der Wand hinter ihrem Tisch.
    Johanna hatte sich zu erkennen gegeben, als sie das Restaurant zum ersten Mal betreten hatte. Zunächst war Filomena Stämpfli etwas verwirrt gewesen. Den Besuch einer Schweizer Polizistin hatte sie nicht erwartet. Denjenigen eines Familienmitgliedes hingegen schon. Bisher allerdings vergeblich.
    Bevor sie nach Mindelo geflogen war, hatte Johanna einige Tage an einem Badestrand verbracht. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie Stämpflis Witwe wirklich besuchen sollte. Weil Johanna nicht wusste, ob sie etwas bringen oder holen wollte. Nach Tamaras Verschwinden war das Ende der Geschichte offengeblieben. Ohne sagen zu können, warum, glaubte Johanna, dass sie die Antwort auf dieser Insel im Atlantischen Ozean finden würde.
    Nach dem Essen setzte sich Filomena mit einer Flasche Grogue an den Tisch. Daraufhin erzählte ihr Johanna alles, was sie über Bernhards Tod wusste. Dankbar und traurig hörte seine Witwe zu. Dass Bernhard umgebracht worden war, wusste sie bereits. Stämpflis Leichnam war von der Zürcher Staatsanwaltschaft noch nicht freigegeben worden. Sobald dies geschehen würde, wollte seine Witwe zur Beerdigung in die Schweiz fliegen. Schmunzelnd stellte sich Johanna vor, wie Filomena mit ihrer Kinderschar Farbe in die Trauerfamilie bringen würde.
    Im Lauf des Gesprächs fanden sie heraus, dass ihre Väter beide Italiener waren. Filomenas Mutter hatte ein paar Jahre mit einem italienischen Seemann zusammengelebt. Eine Weile hatte er reiche Touristen zum Hochseeangeln gefahren. Filomena konnte sich erinnern, wie er von den Fahrten nach Hause gekommen war. Die Hände nach Fisch stinkend, der Atem nach Grogue. Meistens mit einem Kübel Beifang, den die Gäste verschmäht hatten. Daraus bereitete die Mutter Suppe zu. Wenn es besonders gut gelaufen war, gab es gebratenen Thunfisch. Jede Heimkehr war ein Fest. Bis ihr Vater eines Tages auf einem portugiesischen Frachter anheuerte und nie mehr wiederkam.
    Unvermittelt knöpfte Filomena ihre Bluse auf. Lachend zeigte sie Johanna eine Tätowierung auf der rechten Brust. Einen kleinen Anker.
    »Mein Vater ist verschwunden, aber ein Stück seiner Seele ist bei mir geblieben.« Ihre Brüste wieder bedeckend, prostete sie Johanna zu. »Bernardo war wild auf diesen Anker!«
    Danach erzählte Johanna, wie sie ihren Vater zum ersten Mal getroffen hatte. Vor einer Woche in einem Spital in Lausanne. Mit ihrem Bruder war sie dort hingefahren. Vorgefunden hatte sie einen fremden alten Mann. Als sie in das Krankenzimmer getreten war und ihn auf dem Bett hatte liegen sehen, war es gewesen, als hätte ein Wirbelsturm alle ihre Gefühle aus ihr herausgesogen. Zuvor war sie aufgeregt gewesen. Das Herz hatte ihr bis zum Hals geklopft. Sobald sie ihn aber erspäht hatte, hatte sie sich nur noch leer gefühlt. Einige Stunden war sie im Spital geblieben. Er hatte geflennt und um Verzeihung gebettelt. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Vor dem Spital hatte sie ihrem Bruder nahegelegt, sich niemals wieder zu melden. Zwei Tage später war sie nach Afrika geflogen.
    »Das ist schrecklich«, meinte Filomena. »Du hast deinen Engel verloren, Giovanna.« Traurig steckte sie sich eine Zigarette an. »Jeder Mensch hat einen Engel. Sie sollten einen beschützen. Aber manchmal passen sie nicht auf. Schauen einem anderen Engel hinterher. Oder versinken in Gedanken. Schon ist das Unglück passiert.« Einen Moment lang starrte sie die beiden hellen Kugeln der Straßenlaterne vor ihrer Kneipe an. »Dein Engel ist ein Schurke, der dich im Stich gelassen hat.« Darauf stand sie energisch auf. »Wir finden dir einen neuen.«
    Die Suche begann in einem Nachtclub. Sie tanzten durch, bis die Sonne aufging. Am Morgen ging Johanna ohne Engel in ihr Hotel zurück. Filomena begleitete sie nach Hause.
    »Vielleicht hat er Angst vor dir. Du brauchst einen mutigen Engel, keinen Schlappschwanz!«, rief sie Johanna zum Abschied zu.
    Bernhard Stämpflis
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