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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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kleine Schwester einzufangen, die durch den Raum lief und lachend umherhopste. Ich schlang mir ein Tuch um den Kopf und eilte ihr zu Hilfe; da hob der Mullah verärgert die Stimme und rief plötzlich, unser Haus sei wirklich kein anständiges Haus. Die Stumme stand mit unbedecktem Kopf vor ihm, und meine kleine Schwester warf sich ihr in die Arme.
    »Es ist die Schwester meines Mannes, sie ist nicht ganz bei Trost, sie ist taubstumm und versteht nichts,
vergeben Sie ihr, ich behalte sie aus Nächstenliebe bei mir, sonst würde sie auf der Straße leben.«
    Ich traute meinen Ohren nicht, meine Mutter schlug einen flehenden Ton an.
    Die Stumme warf meiner Mutter einen feindseligen Blick zu, wandte sich ab und ging mit meiner Schwester im Arm auf den Hof. Nach diesem Zwischenfall zwang uns meine Mutter jeden Freitagmorgen, während des Gebets im Hof zu bleiben und die Tür abzuschließen. Mein Vater verließ das Haus, bevor der Mullah eintraf.

W ie heißt du?«
    »Besser, du weißt es nicht.«
    »Hast du etwa Angst, dass ich dich bei meinen Folterern denunziere?« fragte ich ihn, während ich mein Essen zu mir nahm.
     
    Ich hätte den Zwischenfall und die Zeit, als der Mullah jeden Freitag zu uns kam, um das Totengebet zu sprechen, wahrscheinlich gar nicht so genau in Erinnerung behalten, auch wenn mein Onkel den Mullah allabendlich imitierte und sich über meine Mutter und ihre Frömmelei lustig machte - nein, ich hätte mich an nichts von alldem erinnert, wenn jener Freitagmorgen unser Schicksal nicht so schlagartig verändert hätte: das der Stummen und das meine. Meine Mutter empfand die Scherze meines Onkels als gotteslästerlich.
    Eines Morgens kam der Mullah später als sonst; mein Onkel war schon bei uns, er wollte mit uns zu Mittag essen. Gegen zwölf klingelte es, ich ging an die
Tür, aber meine Mutter rief: Gib mir meinen Tschador, und geht alle in den Hof. Mein Onkel kam mit, um dem kleinen Frömmigkeitskrämer, wie er ihn nannte, nicht begegnen zu müssen. Im Hof häkelten die Stumme und ich jeden Freitagmorgen Topflappen, um uns die Zeit zu vertreiben. Ich holte die Wollknäuel heraus, aber diesmal schüttelte sie den Kopf, sie hatte nur Augen für meinen Onkel, offensichtlich wäre es ihr tausendmal lieber gewesen, wenn ich nicht da gewesen wäre, um mit ihm allein zu sein. Mein Onkel hatte sich eine Zigarette angesteckt, und die Stumme ging zu ihm hinüber; nie zuvor hatte sie so begehrenswert ausgesehen. Gut, mit meinen damals knapp zwölf Jahren wusste ich noch nichts von der Liebe, aber hier brauchte man nichts zu wissen, es sprang einem ins Auge. Wie sie meinen Onkel ansah, ihm die Zigarette aus dem Mund nahm und sie sich dann zwischen die Lippen steckte! Ich war wie gebannt von dieser Szene. In dem Moment dachte ich, dass die Stumme es wirklich übertrieb, es gab mir einen Stich, diese Eifersucht ließ sich schlecht erklären. Ich hatte seit langem begriffen, dass meine Tante Gefühle für meinen Onkel hegte, so naiv war ich nicht, aber die Erotik, die sie ausstrahlte,
ihre Art zu gehen, sich ihm zu nähern, ihm in die Augen zu sehen und ihm mit ihren schmalen Fingern die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, um sie sich in den eigenen Mund zu stecken, das war schon was. Es war wie im Kino, und in meinem Kopf ging die Szene noch weiter. Dutzende Male hatte ich mir vorgestellt, dass mein Onkel meine Tante nach einem Zug in die Arme nahm und leidenschaftlich küsste, wie im Film. Dabei überkamen mich so starke Empfindungen, als wäre ich selbst verliebt gewesen. In Wirklichkeit hat es diesen Kuss nie gegeben; vielleicht wäre etwas passiert, wenn ich nicht mit im Hof gewesen wäre, aber meine Anwesenheit verunsicherte meinen Onkel offenbar, denn er sagte ziemlich unbeholfen: Behalt sie ruhig, ich zünde mir eine neue an, während er sich von der Stummen entfernte und auf mich zukam. Was für ein Trottel!, schoss es mir durch den Kopf.

J eden Tag warte ich darauf, dass mein Wärter vorbeikommt. Seine kurzen Besuche geben meiner Einsamkeit eine Gestalt. Er sieht sanft aus. Sicher absolviert er seinen Militärdienst. Heute wirkt er ernst, er hat mir wortlos meine Ration gegeben.
     
    Ich glaube, ich habe meine Mutter nie geliebt, aber als Kind habe ich nicht gewagt, es mir einzugestehen; manchmal hatte ich auch Schuldgefühle, weil ich die Stumme mehr liebte als sie, als würde ich sie verraten. Nach allem, was sich ereignet hat, habe ich begriffen, dass ich sie nie geliebt habe. Davon abgesehen: sie
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