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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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I m September bekam ich einen Brief aus dem Iran. Da ich dort niemanden kannte, hielt ich es zunächst für eine Verwechslung, aber auf dem Umschlag stand mein Name. Der Absender auf der Rückseite war in persischen Lettern geschrieben. Zwar war auf beiden Seiten des Umschlages blaue Tinte verwendet worden, es war aber nicht dieselbe Tinte. Die Adressen waren von unterschiedlichen Personen mit verschiedenen Füllern geschrieben worden. Heute erscheint es mir wichtig, meinem Bericht diesen Brief vorauszuschicken.
     
    Madame,
    ich bin Berichterstatterin und arbeite derzeit im Iran. Ich lasse Ihnen über diplomatisches Gepäck ein Päckchen zukommen, das Sie in einigen Tagen erhalten müssten. Es enthält zwei Manuskripte: Das eine, das Original, ist auf Persisch geschrieben, das andere ist die Übersetzung. Der Bericht wurde von einem fünfzehnjährigen
Mädchen im Gefängnis verfasst und erzählt eine wahre Geschichte. Ein wundersamer Zufall hat mir diesen Text in die Hände gespielt. Ich habe die Übersetzung mit Hilfe eines iranischen Schriftstellers angefertigt, eines Spezialisten für westliche Literatur, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchte. Ich habe mir die Freiheit genommen, am Ende der Geschichte einige Zeilen hinzuzufügen, die erläutern, unter welchen Umständen der Bericht in meine Hände gelangt ist. Ich habe mir gedacht, Sie könnten an einer Veröffentlichung interessiert sein, und hoffe sehr, ich habe mich nicht getäuscht.
     
    Mit freundlichen Grüßen
    C. J.
     
    Der Brief machte mich neugierig. Zwei Wochen später kam das Päckchen. Und tatsächlich enthielt es ein mit Maschine geschriebenes Manuskript sowie ein Heft, das in kleiner, gedrängter Handschrift vollgeschrieben war - kein Rand, wenige Streichungen und weder Einzüge noch Absätze. Der Anblick dieser Seiten, die eng mit fremdartigen Worten beschrieben waren, deren Bedeutung sich mir völlig entzog, ließ eine seltsame
Beklemmung in mir aufsteigen. Auf den letzten Seiten wurde die Schrift sogar noch schmaler: Die Verfasserin hatte offenbar nur dieses eine Heft besessen.
    Die Übersetzung las ich in einem Zug durch. Dann nahm ich das Original wieder zur Hand und blätterte es Seite für Seite durch, ohne es entziffern zu können. Dabei hatte ich einen Kloß im Hals, und das Herz wurde mir schwer; mir war, als würde ich die persische Version ein wenig verstehen, zumindest die Entschlossenheit der Autorin und ihr Leid begreifen, das in dieser fremdartigen Schrift zum Ausdruck kam. Dass eine solche Geschichte wahr sein könnte, wäre für mich unvorstellbar gewesen, hätte ich dieses Heft nicht in Händen gehalten. Keine Frage: Ich würde es veröffentlichen.

I ch bin fünfzehn Jahre alt und heiße Fatemeh, ich mag meinen Namen nicht. In unserem Viertel haben alle einen Spitznamen, meiner ist »die Nichte der Stummen«. Die Stumme war meine Tante väterlicherseits. Ich werde bald hingerichtet. Meine Mutter hat mir den Namen Fatemeh gegeben, denn ich bin am Geburtstag des Propheten zur Welt gekommen, und weil ich ein Mädchen bin, hat sie mich nach Mohammeds Tochter benannt. Sie hätte wohl nicht damit gerechnet, dass ich eines Tages hingerichtet würde. Ich auch nicht. Ich habe den jungen Gefängniswärter angefleht, mir ein Heft und einen Stift zu geben. Er hatte Mitleid und erhörte den letzten Wunsch einer zum Tode Verurteilten. Wo soll ich anfangen? Das kleine Lexikon auf dem Mauervorsprung der Zelle, in der ich über ein Jahr verbracht habe, habe ich mehrmals durchgelesen. Es hat mir Spaß gemacht, mir die Bedeutungen der Wörter einzuprägen, aber ich erinnere mich nicht an alle Wörter und ihre Bedeutung.
Ich habe noch nie etwas geschrieben, abgesehen vielleicht von ein paar Gedichten, etwa zwanzig, aber niemand hat sie je gelesen. In der Schule war ich sehr gut, aber mit dreizehn musste ich sie verlassen. Ich wäre gern dort geblieben und später auf die Universität gegangen. Doch aus meiner Familie, und auch aus meinem Viertel, hat niemand je eine Universität betreten. Dort, wo ich aufgewachsen bin, gibt es nichts außer Elend und Drogen. Keiner entrinnt dort seinem Schicksal. In dieser Welt zerstört die Armut Männer und Frauen, sie macht sie schlecht: Wegen des großen Elends träumen die Menschen nicht einmal mehr. Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, war ein sanfter, gut aussehender Mann, aber drogensüchtig. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war er noch ein Träumer, vielleicht träumte er ein bisschen zu
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